Der Sohn der Schatten
von beidem zu erfahren, aber hier bist du nicht mehr als eine Last. Hier ist kein Platz für Frauen.«
»Glaub mir, ich bin nicht freiwillig hier. Aber da deine Männer mich schon einmal hierher gebracht haben, gib mir zumindest die Gelegenheit, etwas zu tun. Ich werde dir zeigen, was möglich ist. Sieben oder acht Tage … lange genug, um mich ordentlich um den Mann zu kümmern und ihm die Möglichkeit zu geben, um sein Leben zu kämpfen. Das ist alles, worum ich bitte.« Ich sah Möwes Gesicht, ein Ausbund der Überraschung. Immerhin hatte ich vollkommen meinen vorherigen Worten widersprochen. Vielleicht war ich wirklich dumm. In Hunds Gesicht stand Hoffnung; die anderen sahen die Felswände an, den Boden, ihre Hände, alles, nur nicht ihren Anführer. Irgendjemand hinten pfiff leise, als wollte er sagen: Jetzt hat sie es wirklich getan.
Der Rabenmann regte sich einen Augenblick lang nicht und sah mich nur mit halb zugekniffenen Augen an, dann steckte er das Messer lässig wieder ein.
»Sieben Tage«, meinte er. »Glaubst du, das wird genügen?«
Ich konnte den schweren Atem des Schmieds und den zynischen Tonfall in dieser Frage hören.
»Der Arm muss ab«, sagte ich. »Jetzt gleich. Und dabei brauche ich Hilfe. Ich kann euch sagen, wie es gemacht werden muss, aber ich habe nicht genug Kraft, um selbst zu schneiden. Danach werde ich mich um ihn kümmern. Zehn Tage wären besser.«
»Sechs Tage«, sagte er kalt. »In sechs Tagen ziehen wir weiter. Später geht es nicht; man braucht uns anderswo, und wir benötigen Zeit für den Weg. Wenn Evan uns dann nicht begleiten kann, lassen wir ihn zurück.«
»Du bittest um etwas Unmögliches«, flüsterte ich. »Und du weißt es.«
»Du wolltest einen Versuch. Das ist eine Gelegenheit. Und wenn du uns jetzt entschuldigen würdest, wir haben zu tun. Du, Möwe, und du«, er nickte Hund zu, »ihr könnt ihr bei der Arbeit helfen, da ihr dumm genug wart, sie herzubringen. Beschafft ihr, was sie braucht. Tut, was sie sagt. Und ihr anderen …« Er sah sich im Kreis seiner Männer um, und sie schwiegen. »Ihr lasst die Finger von der Frau. Das sollte ich nicht sagen müssen. Wer immer sie anrührt, wird am nächsten Tag große Schwierigkeiten haben, seine Waffe anzufassen. Sie wird hier bleiben und die ganze Zeit bewacht werden. Wenn jemand auch nur wagt, daran zu denken, gegen meine Anordnungen zu verstoßen, wird schon sehen, was er davon hat.«
KAPITEL 4
Ich bemühte mich, mir nichts anmerken zu lassen, aber ich war wie versteinert vor Angst. Ich, das Mädchen, das sich nichts mehr wünschte, als zu Hause bleiben und sich um ihren Kräutergarten kümmern zu können, ich, das Mädchen, das es über alles liebte, nach dem Abendessen mit der Familie Geschichten auszutauschen, wies wilde Söldner an, wie man einem Sterbenden den Arm abhackt und die Wunde mit einem heißen Eisen schließt. Ich, die Tochter von Sevenwaters, allein im Versteck des Bemalten Mannes und seiner Bande von Mördern – denn es war mir nur zu deutlich geworden, dass es sich hier um dieselben Gesetzlosen handeln musste, von denen Eamonn erzählt hatte. Ich, Liadan, feilschte mit einem Mann, der … was hatte Eamonn gesagt? Dass er seine Aufträge ohne Stolz oder Treue erledigte? Ich war nun nicht mehr sicher, ob diese Beschreibung wirklich zutraf. Ich glaubte, dass er über beides verfügte, wenn auch vielleicht nicht in der Weise, wie Eamonn es definiert hätte. Dieser Mann war ausgesprochen unangenehm, daran bestand kein Zweifel. Aber warum hatte er meinem Vorschlag zugestimmt, wenn er ihn für so falsch hielt?
Darüber dachte ich nach, während ich Hund anwies, ein Kohlebecken vor der Höhle vorzubereiten und das Feuer am Brennen zu halten. Und einen breiten Dolch wenn möglich bis zu rotem Glühen zu erhitzen. Möwe holte die anderen Dinge, die ich brauchte. Besonders eine kleine Schale warmen Wassers und ein sehr scharfes Messer mit einer gezähnten Klinge. Schlange brachte weitere Laternen und stellte sie rings um den Felsüberhang auf. Inzwischen saß ich bei dem Schmied Evan und versuchte, mit ihm zu sprechen. Manchmal war er bei Bewusstsein, manchmal nicht, in einem Augenblick brabbelte er im Fieber Unsinn vor sich hin, dann war er plötzlich wieder bei uns und starrte mich in einer Mischung aus Hoffnung und Entsetzen an. Ich versuchte, ihm während dieser kurzen, klaren Augenblicke zu erläutern, was geschehen würde.
»… Ich kann deinen Arm nicht retten … um dein Leben zu
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