Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
Vom Netzwerk:
ich euch richtig verstanden habe. Ganz gegen mein eigenes Urteil lasse ich euch zwei Tage, um zu beweisen, dass ihr es besser wisst als ich. Jetzt ist die Zeit vorüber. Es geht ihm nicht besser. Und ihr habt das Unvermeidliche nur verzögert. Und nun bringt ihr eine Frau hierher. Ein Mädchen, das ihr von der Straße weggeschleppt habt! Ich habe dich falsch eingeschätzt, Möwe. Es sieht aus, als wäre dir dein Platz in meiner Truppe weniger wert, als ich dachte.«
    »Hauptmann.«
    »Habe ich Unrecht? Geht es ihm besser? Hat dieses Weib ein Wunder bewirkt?«
    »Nein, Hauptmann, aber …«
    »Was ist aus deiner Vernunft geworden, Möwe? Und ihr anderen? Was ist in euch gefahren? Ihr wisst, wie das hätte ausgehen müssen, und zwar gleich, als er sich verletzt hat. Ich hätte nicht zulassen sollen, dass ihr euch mir in den Weg stellt. Wenn ihr nicht den Mut für solche Entscheidungen habt, dann gibt es hier für euch keinen Platz.«
    Sie waren jetzt nahe den Felsen, beinahe in Sichtweite. Ich hielt die Hand meines Patienten und zwang mich, langsam und stetig zu atmen.
    »Hauptmann. Das ist nicht irgendein Mann. Wir reden hier von Evan.«
    »Und?«
    »Ein Freund, Häuptling, ein guter Freund und ein guter Mann.«
    »Und außerdem«, warf Hund ein, »wer wird sich um unsere Waffen kümmern, wenn er weg ist? Er ist der beste Schmied diesseits von Gallien. Du kannst nicht …« Seine Stimme erstarb, als sei ihm jetzt erst etwas aufgefallen. Alle schwiegen.
    »Ein einarmiger Schmied nützt nicht viel.« Die Stimme war kalt und leidenschaftslos. »Habt ihr mal daran gedacht, was der Mann sich selbst wünschen würde?«
    In diesem Augenblick kamen sie um die Felsen herum und unter den Überhang, dorthin, wo ich bei dem Verletzten saß. Ich stand auf, richtete mich so hoch auf, wie ich konnte, strengte mich an, ruhig und zuversichtlich auszusehen. Es machte keinen großen Unterschied. Der Hauptmann gönnte mir nur einen Seitenblick, dann konzentrierte er sich auf den Mann, der neben mir lag. Ich hätte genauso gut überhaupt nicht anwesend sein können. Ich beobachtete ihn, als er näher kam und dem Schmied die Hand auf die Stirn legte – eine Hand, die von der Ärmelmanschette bis zu den Fingerspitzen mit Federn und Spiralen und ineinander verflochtenen Mustern geschmückt war, so kompliziert und faszinierend wie ein altes Rätsel. Ich blickte auf, und einen Augenblick lang sah er mich über den Strohsack hinweg direkt an. Ich schnappte nach Luft. Ein solches Gesicht hatte ich noch nie gesehen, nicht einmal in den wildesten Träumen. Dieses Gesicht war auf seine eigene Weise ein Kunstwerk. Denn es war hell und dunkel, Nacht und Tag, diese Welt und die Anderwelt. Auf der linken Seite war es das Gesicht eines jüngeren Mannes, die Haut vom Wetter gezeichnet, aber hell, das Auge grau und klar, der Mund schön geformt, wenn auch unnachgiebig. Auf der rechten Seite, direkt von der Mitte ausgehend, gab es Linien und Bögen und ein Federmuster wie die Maske eines wilden Raubvogels. Ein Adler? Ein Habicht? Nein, dachte ich, es war ein Rabe, bis hin zu den Kreisen um das Auge und der Andeutung eines Schnabels um die Nase. Das Zeichen des Raben. Wäre ich nicht so verängstigt gewesen, hätte ich über die Ironie gelacht. Das Muster zog sich über seinen Hals und unter den Rand seiner Lederweste und das Leinenhemd, das er darunter trug. Er hatte den Kopf vollkommen rasiert, und auch der Schädel wies dasselbe Muster auf, halb Mensch, halb wildes Tier. Ein großer Künstler mit Tinte und Nadel musste viele Tage daran gearbeitet haben, und ich nahm an, dass der Schmerz gewaltig gewesen sein musste. Was war das für ein Mann, der einen solchen Schmuck brauchte, um seine Identität zu finden? Ich starrte ihn an. Daran war er wahrscheinlich gewöhnt. Mit einiger Schwierigkeit riss ich meinen Blick los und sah Möwe und Hund und Schlange an, die stumm neben ein paar anderen ebenfalls schweigenden Männern standen.
    Ihre Kleidung war zusammengewürfelt, wie Eamonn es beschrieben hatte: ein zerzaustes Fell dort, Federn hier, Kettenhemden, Lederflicken, Schnallen und Riemen, Silberkragen und Armreife und die nicht unbeträchtliche Zurschaustellung muskulösen Fleisches in unterschiedlichen Schattierungen. Etwas verspätet fiel mir auf, dass dies vielleicht nicht der sicherste Ort der Welt für eine junge Frau war. Ich konnte beinahe die Stimme meines Vaters hören: Hast du auch nur ein einziges Mal zugehört, als ich dich unterrichtet

Weitere Kostenlose Bücher