Der Sohn der Schatten
habe, Liadan?
Der Anführer hatte ein Messer vom Gürtel gezogen. Es war ein scharfes, tödliches Messer.
»Bringen wir es zu Ende«, sagte er. »Ihr hättet mich nicht so lange aufhalten sollen. Dieser Mann hat keinen Nutzen mehr. Er kann zu nichts mehr beitragen, hier oder anderswo. Ihr habt nur sein Leiden sinnlos verlängert.« Er bewegte sich beinahe unbemerkt, so dass der verwundete Mann seine Hände nicht sehen konnte, und packte das Messer fester. Die anderen schwiegen. Niemand rührte sich. Niemand sagte ein Wort. Er hob das Messer.
»Nein!« Ich streckte eine Hand über den Strohsack und schirmte damit den Hals des Verwundeten ab. »Das kannst du nicht tun! Du kannst nicht einfach … du kannst ihn nicht einfach schlachten, als wäre er ein Kaninchen in der Schlinge oder ein Schaf, das in den Topf wandern soll. Das hier ist ein Mensch. Einer wie du.«
Der Häuptling zog die Brauen ein wenig hoch. Sein schmaler Mund blieb unverändert. Sein Blick war kalt.
»Würdest du es etwa nicht tun, wenn es sich um deinen Hund oder deinen Falken oder deine Stute handelte, die an einer so tödlichen Verletzung litte? Würdest du solche Qual grundlos verlängern wollen? Aber nein, ich nehme an, es gab immer einen Mann, der die Dreckarbeit für dich gemacht hat. Was sollte eine Frau auch schon von solchen Dingen wissen? Nimm die Hand weg.«
»Das werde ich nicht tun«, erwiderte ich zorniger. »Du sagst, dieser Mann hätte keinen Nutzen mehr, als wäre er … nur ein Werkzeug, eine Waffe in deiner Rüstkammer. Du sagst, er kann nichts mehr beitragen. Zu deinen Zwecken vielleicht nicht. Aber er lebt noch. Er kann eine Frau lieben und ein Kind zeugen. Er kann lachen und singen und Geschichten erzählen. Er kann die Früchte der Felder genießen und abends einen Krug guten Biers. Er kann zusehen, wie sein Sohn ein Schmied wird, wie er es gewesen ist. Dieser Mann kann vielleicht leben. Es gibt eine Zukunft nach …« Ich sah mich um in diesem Kreis grimmiger Männer. »Nach dem hier.«
»Wo hast du gelernt, was du über das Leben weißt?«, fragte mich der Rabenmann barsch. »In einem Märchen? Wir leben alle nach unseren Regeln. Wir haben keine Namen, keine Vergangenheit, keine Zukunft. Wir haben Aufgaben zu erledigen, und zwar solche, bei denen wir gut sind. Für diesen Mann – für uns alle – gibt es darüber hinaus kein Leben. Es kann keines geben. Geh von dem Bett weg.« Es war inzwischen recht dunkel geworden, und einer der Männer hatte eine kleine Laterne angezündet. Wild zuckende Schatten fielen auf die zerklüfteten Felswände, und im Gesicht des Hauptmanns stand eine Drohung, die ebenso echt war wie die Waffe in seiner Hand. Es wurde sehr deutlich, wie er einem Feind das Fürchten beibringen konnte, denn im unregelmäßigen Licht schien er tatsächlich halb Rabe zu sein, sein Auge durchdringend hell und gefährlich in den Wirbeln und Spiralen des kunstvoll gezeichneten Musters.
»Weg da«, sagte er.
»Nein«, erwiderte ich. Und er hob die linke Hand, als wollte er mich ins Gesicht schlagen. Mit großer Willenskraft gelang es mir, nicht zurückzuzucken. Ich starrte ihm in die Augen und hoffte, dass er nicht erkennen konnte, wie ich vor Angst zitterte. Der Mann starrte mit leerem Blick zurück, und dann senkte er langsam die Hand.
»Hauptmann«, wagte Möwe sich vor – der Einzige, der den Mut hatte, etwas zu sagen.
»Sei still! Du wirst weich, Möwe. Erst bittest du um zwei Tage Gnade für einen Mann, von dem du weißt, dass er keine Hoffnung hat zu überleben, der nicht einmal leben wollte, wenn er könnte. Dann bringst du dieses dumme Mädchen her. Wo hast du sie gefunden? Sie hat eine scharfe Zunge, das kann ich nicht abstreiten. Können wir jetzt endlich weitermachen? Wir haben zu tun.« Vielleicht glaubte er, mich so eingeschüchtert zu haben, dass ich schwieg.
»Er hat eine Chance.« Ich war erleichtert, dass er sich offenbar entschieden hatte, mich nicht zu schlagen, denn mein Kopf schmerzte noch von dem vorhergehenden Schlag. »Eine geringe, aber es ist eine Chance. Er wird allerdings seinen Arm verlieren. Den kann ich nicht retten. Aber vielleicht sein Leben. Ich glaube nicht, dass er sterben möchte. Er hat mich gebeten, ihm zu helfen. Lasst es mich wenigstens versuchen.«
»Warum?«
»Warum nicht?«
»Verflucht, Frau, ich habe weder Zeit noch Lust, darüber mit dir zu reden. Ich weiß nicht, woher du gekommen bist und wohin du gehst, und ich habe auch kein Interesse daran, eines
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