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Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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begonnen hatte. Sorgfältig abgemessene Kräutertränke gegen die Schmerzen, Mischungen, die auf dem Kohlebecken verbrannt wurden und die üblen Körpersäfte veranlassen sollten, den Körper zu verlassen. Verbände für die hässliche Brandwunde. Kompressen für die Stirn. Einen großen Teil der Zeit saß ich einfach neben dem Strohsack, hielt Evans Hand in meiner, sprach leise auf ihn ein oder sang ihm kleine Lieder vor wie einem fiebernden Kind.
    Am zweiten Abend ließ man mich bis zum Lagerfeuer. Hund führte mich durchs Lager, wo viele Zelte und Unterschlüpfe zwischen Bäumen und Büschen aufgeschlagen waren, bis wir zu einer Art Lichtung kamen, auf der ein heißes rauchloses Feuer ordentlich zwischen Steinen brannte. Rings um dieses Feuer saßen ein paar Männer und löffelten ihr Essen aus kleinen Gefäßen, wie sie die meisten Reisenden irgendwo in ihrem Gepäck tragen. Es roch nach Kanincheneintopf. Ich war hungrig genug, nicht wählerisch zu sein, und nahm die Schale entgegen, die man mir in die Hand drückte. Es war still bis auf das Zirpen der Grillen und das leise Singen eines Vogels, bevor er auf den Zweigen über uns einschlief.
    »Hier«, sagte Hund. Er reichte mir einen kleinen Löffel, der aus Knochen geschnitzt war. Er war nicht sonderlich sauber. Viele Blicke richteten sich im Halbdunkel auf mich.
    »Danke«, sagte ich, da ich begriff, dass man mir ein seltenes Vorrecht zuteil werden ließ. Die anderen aßen mit den Fingern oder vielleicht mit einem Stück harten Brots. Niemand lachte, kaum jemand sprach. Meine Gegenwart hatte ihre Gespräche zum Verstummen gebracht. Selbst als Bier ausgeschenkt und Becher herumgereicht wurden, gab kaum einer einen Laut von sich. Ich aß meine Mahlzeit, lehnte einen Nachschlag ab. Jemand bot mir einen Becher Bier an, und ich nahm ihn.
    »Gute Arbeit«, meinte jemand schlicht.
    »War sicher nicht leicht«, stimmte ein anderer zu. »Hab schon öfter gesehen, wie so was versaut wurde. Einer kann leichter verbluten als … was ich sagen will ist, so was muss man richtig machen.«
    »Danke«, erwiderte ich ernst. Ich blickte von der Bank nahe dem Feuer, auf der ich saß, zu dem Kreis von Gesichtern auf. Alle hielten drei oder vier Schritte Abstand von mir. Ich fragte mich, ob auch das zu den Regeln gehörte. Sie waren eine seltsam gemischte Gruppe; ihre bizarre, zusammengeflickte Sprache wies darauf hin, dass sie aus aller Herren Länder kamen und schon lange miteinander umherzogen. Von all diesen Männern, dachte ich, waren nur zwei oder drei hier in Erin geboren. »Ich hatte Helfer«, fügte ich hinzu. »Allein hätte ich es nicht geschafft.«
    Ein sehr großer, dünner Mann betrachtete mich forschend und verzog nachdenklich das Gesicht.
    »Trotzdem«, sagte er nach einer Weile, »ohne dich wäre das nicht möglich gewesen. Oder?«
    Ich sah mich rasch um, weil ich niemandem Ärger machen wollte. »Vielleicht«, meinte ich schließlich.
    »Jetzt hat er eine Chance, oder?«, fragte der Mann, beugte sich vor, die langen dünnen Arme um knochige Knie geschlungen. Erwartungsvolles Schweigen trat ein.
    »Ja, eine Chance«, sagte ich vorsichtig. »Nicht mehr. Ich werde mein Bestes tun.«
    Einige nickten. Dann gab jemand ein leises Geräusch von sich, halb ein Zischen, halb ein Pfeifen, und plötzlich vermieden alle angestrengt, mich anzusehen.
    »Hier, Hauptmann.« Eine Schale mit Essen wurde weitergereicht, ein voller Becher.
    »Es ist sehr still hier«, sagte ich nach einer Weile. »Singt ihr keine Lieder oder erzählt euch nach dem Essen Geschichten?«
    Jemand schnaufte kurz und unterdrückte es sofort.
    »Geschichten?« Hund war verblüfft und kratzte sich die kahle Seite seines Kopfes. »Wir kennen keine Geschichten.«
    »Du meinst, von Riesen und Ungeheuern und Meerjungfrauen?«, fragte der sehr große, schlaksige Bursche. Ich glaubte, ein winziges Aufblitzen in seinen Augen zu entdecken.
    »Solche und andere«, meinte ich ermutigend. »Es gibt auch Geschichten von Helden und großen Schlachten und Reisen zu fernen, wunderbaren Ländern. Es gibt viele Geschichten.«
    »Kennst du ein paar davon?«, fragte der große Mann.
    »Halt den Mund, Spinne«, zischte jemand.
    »Genug, um jeden Abend des Jahres eine neue zu erzählen, und dann sind immer noch welche übrig«, sagte ich. »Wollt ihr eine hören?«
    Während des folgenden Schweigens wechselten die Männer Blicke, und einige rutschten unruhig hin und her.
    »Du bist hier, um deine Arbeit zu machen und nicht, um

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