Der Sohn der Schatten
um im Gleichgewicht zu bleiben, als sich alles vor meinen Augen zu drehen begann.
»Tut mir Leid«, murmelte ich dümmlich, als entschuldigte ich mich aus Höflichkeit. Plötzlich packte mich jemand sehr fest am Arm und zog mich zu dem Hocker und drückte mich darauf.
»Schlange. Lass das jetzt. Er atmet immer noch, er wird vorerst am Leben bleiben. Hol dem Mädchen saubere Sachen, wenn du irgendwas finden kannst, was klein genug ist. Eine Decke und Waschwasser. Geh zum Feuer, hol dir was zu essen und bring ihr auch etwas mit, wenn du zurückkommst. Sie ist ohnehin zu nicht viel nütze, und das wird noch schlimmer werden, wenn wir sie hungern lassen.« Dann wandte er sich mir wieder zu. »Erste Kampfregel: Nur die abgehärtetsten Krieger sind noch gut, wenn sie zu wenig essen und noch weniger Schlaf bekommen. Das schafft man nur mit langer Übung. Wenn du deiner Aufgabe vernünftig nachkommen willst, dann bereite dich vernünftig darauf vor.«
Ich war viel zu müde, um zu widersprechen.
»Du wirst heute Nacht zwei Wachtposten haben. Einen draußen, einen, der Evan beobachtet, während du schläfst. Glaub deshalb nicht, dass du es leicht haben wirst. Du hast dir diese Aufgabe selbst ausgesucht, und nach dieser Nacht wirst du dich allein darum kümmern müssen.«
Endlich ging er. Ich schloss die Augen und schwankte vor Müdigkeit. Der Schmied lag im Augenblick ruhig da.
»Oh, und noch eins.«
Ich riss die Augen wieder auf.
»Das hier hat dir eine gewisse … Hochachtung eingebracht. Bei den Männern. Sorg dafür, dass nicht mehr daraus wird. Sobald einer gegen die Regeln verstößt, wird er der schwersten Strafe gegenüberstehen. Du hast auch ohne das schon genug auf deinem Gewissen.«
»Was weiß ein Mann wie du schon von Gewissen?«, murmelte ich, als er sich auf dem Absatz umdrehte und davonging. Ich wusste nicht, ob er mich gehört hatte.
Es war eine seltsame Zeit. Es gibt Geschichten über Männer und Frauen, die in einer mondhellen Nacht im Wald vom Feenvolk entführt werden, die in die Anderwelt reisen und dort ein Leben kennen lernen, das sich so von dem unseren unterscheidet, dass sie, wenn sie zurückkehren, kaum mehr wissen, was Wirklichkeit und was Traum ist. Der Bemalte Mann und seine Truppe waren von den visionären Geschöpfen der Anderwelt so weit entfernt, wie man sich nur vorstellen konnte, aber dennoch fühlte ich mich vollkommen aus meinem normalen Leben herausgerissen, und obwohl es schwer zu glauben ist, dachte ich während meiner Tage in dem verborgenen Lager nicht viel an mein Zuhause oder meine Eltern oder sogar daran, wie es meiner Schwester Niamh ergehen mochte, die ganz allein war und das Bett eines Fremden teilen musste. Es gab Augenblicke, in denen mir kalt vor Angst wurde, wenn ich mich an Eamonns Geschichte erinnerte. Ich begriff, dass meine Situation wahrhaft gefährlich war. Die Wachen, die Liam mir mitgegeben hatte, waren sehr wahrscheinlich mit gnadenloser Kälte getötet worden. So erledigten diese Männer ihre Arbeit. Was ihre Regeln anging – sie würden mich vielleicht schützen, und vielleicht auch nicht. Am Ende würde mein Leben wahrscheinlich davon abhängen, ob der Schmied überlebte oder starb. Aber mein Vater hatte mir einmal gesagt, dass Angst keine Kämpfe gewinnt. Ich krempelte meine Ärmel hoch und sagte mir, dass ich keine Zeit für Hysterie hätte. Das Leben eines Menschen stand auf dem Spiel. Außerdem hatte ich etwas zu beweisen und war entschlossen, es zu tun.
Während jener ersten Nacht und des nächsten Tages bewachten sie mich so intensiv, dass es mir vorkam, als hätte ich stets einen hoch gewachsenen, bewaffneten Schatten hinter mir. Ich musste sie sogar daran erinnern, dass Frauen gewisse körperliche Bedürfnisse hatten, denen sie am besten in aller Abgeschiedenheit nachgingen. Wir entwickelten dann einen Kompromiss, der zuließ, dass ich zumindest kurz außer Sichtweite blieb, immer vorausgesetzt, es dauerte nicht zu lange und ich kehrte sofort dorthin zurück, wo Hund oder Möwe oder Schlange warteten, die Waffe in der Hand. Niemand brauchte mir zu erklären, wie vollkommen sinnlos ein Fluchtversuch gewesen wäre. Sie brachten mir Essen und Wasser, sie brachten mir einen Eimer, damit ich mich waschen konnte. Gekleidet in jemandes altes Unterhemd, das mir bis über die Knie reichte, und ein weites Hemd mit nützlichen Taschen hier und da, flocht ich mir das Haar streng im Nacken, damit es aus dem Weg war, und machte mit dem weiter, was ich
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