Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
Vom Netzwerk:
nächstbesten Gelegenheit davonzulaufen.«
    Ich blickte zu ihm auf. Er sah mich ernst an, und ich dachte nicht zum ersten Mal über sein seltsames Zwei-in-einem-Gesicht nach. Das kunstvolle Muster auf der rechten Seite ließ sein Auge bedrohlich aussehen, gab seiner Nase einen arroganten Bogen, seinem Mund Strenge. Und dennoch, wenn man die andere Seite für sich betrachtete, war die Haut hell und glatt, die Nase gerade, das Auge von klarem Grau wie Seewasser an einem Wintermorgen. Nur der Mund war derselbe, fest und unnachgiebig. Er war wie zwei Männer in einem einzigen Körper. Wieder starrte ich ihn an. Ich zwang mich, den Blick abzuwenden.
    »Vertrauen?«, fragte er. »Dieses Wort hat keine Bedeutung.«
    »Mach doch, was du willst«, sagte ich und setzte dazu an, in den Unterschlupf zurückzukehren.
    »Noch nicht«, sagte Bran. »Ich nehme an, du hast es gehört? Du hast gehört, was der Schmied gesagt hat?«
    »Einen Teil davon. Ich bin froh zu hören, dass er so klar gesprochen hat. Es scheint ihm besser zu gehen.«
    »Hm.« Er klang nicht überzeugt. »Dank dir hat er gewisse Hoffnungen auf eine Zukunft. Du hast sie ihm mit Worten ausgemalt wie gestern Abend für meine Männer. Ein rosiger Neuanfang voller Liebe, Leben und Sonnenlicht. Du tust das, und dennoch wagst du es, ein Urteil über uns zu fällen.«
    »Wie meinst du das?«, fragte ich leise. »Ich habe ihm nur die Wahrheit gesagt. Ich habe die Tatsachen nicht vor ihm verborgen, habe ihn nicht über das Ausmaß seiner Verletzung hinweggetäuscht und wie es ihn einschränken würde. Und wie ich dir schon zuvor sagte, muss sein Leben deshalb nicht vorüber sein. Es gibt viele Dinge, die er tun kann.«
    »Falsche Hoffnungen«, sagte er trostlos und trat mit der Stiefelspitze Erde weg. »Das ist kein Leben für einen aktiven Mann. Auf deine weiche Art bist du grausamer als ein Meuchelmörder, der sein Opfer rasch und wirkungsvoll erledigt. Das Opfer eines solchen Mörders leidet nicht lange. Dein Opfer verbringt vielleicht den Rest seines Lebens damit, zu begreifen, dass es nie wieder so sein kann wie früher.«
    »Ich habe ihm nicht gesagt, dass es so sein wird wie früher. Gut, aber anders, habe ich gesagt. Und ich habe davon gesprochen, dass er stark sein muss, stark im Geist und Willen und nicht nur körperlich. Dass er gegen seine Verzweiflung kämpfen muss. Du beurteilst mich ungerecht. Ich war ehrlich mit ihm.«
    »Du kannst wohl kaum von Urteilen sprechen«, meinte Bran. »Du hältst mich für eine Art Ungeheuer, das ist klar.«
    Ich betrachtete ihn ruhig. »Kein Mensch ist ein Ungeheuer«, erwiderte ich. »Menschen tun ungeheuerliche Dinge, so viel ist sicher. Und ich habe dich nicht so übereilt beurteilt, wie du es mit mir tust. Ich wusste von dir, bevor man mich überfallen und gegen meinen Willen hierher gebracht hat. Wie du zweifellos weißt, eilt dir ein gewisser Ruf voraus.«
    »Was hast du gehört und von wem?«
    Ich bedauerte bereits meine Worte. »Dieses und jenes«, sagte ich vorsichtig. »Gerüchte von Morden, die scheinbar zufällig geschahen, auf eine Weise ausgeführt, die ebenso wirkungsvoll wie … exzentrisch war. Geschichten von einer Söldnerbande, die vor nichts zurückschreckt, wenn man sie nur gut genug bezahlt, und die sich mit solchen Kleinigkeiten wie Loyalität, Ehre und Gerechtigkeit nicht abgibt. Von Männern, die aussehen wie wilde Tiere oder Geschöpfe aus der Anderwelt. Angeführt von einem schattenhaften Hauptmann, den sie den Bemalten Mann nennen. Man hört oft von diesen Geschichten.«
    »Und was für ein Haus war das, wo solche Gerüchte an deine Ohren drangen?«
    Ich antwortete nicht.
    »Beantworte meine Frage«, sagte er immer noch leise. »Es ist an der Zeit, dass du mir sagst, wer du bist und wo du herkommst. Meine Männer waren seltsam vage, als sie erzählt haben, wie sie dich gefunden haben und wer dich auf der Straße begleitete. Ich erwarte immer noch eine angemessene Erklärung von ihnen.«
    Ich schwieg weiter und sah ihn nur an.
    »Antworte mir, verflucht!«
    »Wirst du mich diesmal wirklich schlagen?«, fragte ich, ohne die Stimme zu heben.
    »Führ mich nicht in Versuchung. Wie heißt du?«
    »Ich dachte, wir hätten hier keine Namen.«
    »Du gehörst nicht hierher, und du kannst nicht hierher gehören«, fauchte Bran. »Ich kann dich schon dazu bringen, zu antworten, wenn es sein muss. Es wird für uns beide leichter sein, wenn du es einfach tust. Ich bin verblüfft, dass du nicht erkennst, in

Weitere Kostenlose Bücher