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Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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Augenblick lang, nur einen Augenblick lang, überfiel die Kampfeswut Cú Chulainn, und bevor er wusste, was er tat, gab er einen Schrei von sich und stieß sein Schwert tief in die Eingeweide seines Gegners.«
    Um mich herum erklang Gemurmel – einige meiner Zuhörer hatten es kommen sehen, aber alle spürten das plötzliche Gewicht solch entsetzlicher Taten.
    »Sobald er das getan hatte, kam Cú Chulainn wieder zu sich. Er riss das Schwert heraus, und Conlais Lebensblut ergoss sich rot auf den Boden. Cú Chulainns Männer kamen herunter, nahmen dem Fremden den Helm ab und sahen, dass er nur ein Junge war, dessen Augen bereits verdunkelt waren vom Schatten des Todes, dessen Gesicht bleicher und bleicher wurde, während die Sonne hinter die Ulmen sank. Dann lockerte Cú Chulainn das Gewand des Jungen, um ihm sein Ende bequemer zu machen. Und er sah den kleinen Ring, der an einer Kette um Conlais Hals hing. Den Ring, den er Aoife vor beinahe fünfzehn Jahren gegeben hatte.« Bran hatte eine Hand an die Stirn gelegt. Immer noch starrte er in die Flammen. Was hatte ich gesagt?
    »Er hat seinen eigenen Sohn getötet«, flüsterte jemand.
    »Seinen Jungen«, sagte ein anderer. »Seinen eigenen Jungen.«
    »Es war zu spät«, sagte ich nüchtern. »Zu spät, noch um Verzeihung zu bitten. Zu spät, um Lebewohl zu sagen, denn sobald Cú Chulainn erkannte, was er getan hatte, tat sein Sohn seinen letzten Atemzug, und Conlais Geist floh aus seinem Körper.«
    »Das ist schrecklich«, sagte Hund entsetzt.
    »Es ist eine traurige Geschichte«, stimmte ich zu, und ich fragte mich, ob auch nur einer von ihnen diese Geschichte in irgendeiner Weise mit ihren eigenen Aktivitäten in Verbindung brachte. »Es heißt, Cú Chulainn hätte den Jungen auf seinen eigenen Armen nach drinnen getragen und ihn mit allem Prunk begraben. Wie er sich fühlte und was er sagte, erzählt die Geschichte nicht.«
    »Ein Mann kann so etwas nicht tun und es einfach hinter sich lassen«, meinte Möwe sehr leise. »Es würde ihn stets begleiten, ob er es wollte oder nicht.«
    »Was ist mit seiner Mutter?«, fragte Hund. »Was hatte sie dazu zu sagen?«
    »Sie war eine Frau«, meinte ich trocken. »Die Geschichte beschäftigt sich nicht weiter mit ihr. Ich nehme an, sie hat den Verlust ertragen und weitergemacht, wie es Frauen tun.«
    »In gewisser Weise war es ihr Fehler«, warf jemand ein. »Wenn er seinen Namen genannt hätte, hätten sie ihn willkommen geheißen, statt zu kämpfen.«
    »Es war die Hand eines Mannes, die das Schwert in seine Eingeweide trieb. Es war der Stolz eines Mannes, der Cú Chulainn zustoßen ließ. Ihr könnt der Mutter nicht die Schuld geben. Sie hat nur versucht, ihren Sohn zu schützen, denn sie wusste, wie Männer sind.«
    Schweigen folgte meinen Worten. Zumindest hatte die Geschichte sie nachdenken lassen. Nach der vergnüglichen Stimmung des früheren Abends war nun wirklich alles anders.
    »Glaubt ihr, dass ich ein zu hartes Urteil fälle?«, sagte ich und stand auf.
    »Keiner von uns hat je seinen eigenen Sohn getötet«, erklärte Spinne zornig.
    »Ihr habt den Sohn eines anderen Mannes getötet«, sagte ich leise. »Jeder Mann, der vor eurem Messer oder euren Händen oder euren kleinen Seilschlingen fiel, ist der Liebste einer Frau, der Sohn einer Frau. Jeder Einzelne.«
    Niemand sagte etwas. Ich dachte, ich hätte sie beleidigt. Nach einer Weile ging einer herum und goss Bier nach, und ein anderer warf mehr Holz aufs Feuer, aber niemand sprach mehr. Ich wartete darauf, dass Bran etwas sagte, mir vielleicht befahl, ich solle den Mund halten und aufhören, seine Krieger zu verstören. Stattdessen stand er auf, drehte sich auf dem Absatz um und ging ohne ein Wort davon. Ich starrte ihm hinterher, aber er war wie ein Schatten in den Bäumen verschwunden. Die Nacht war sehr dunkel. Leise begannen die Männer, miteinander zu reden.
    »Bleib noch eine Weile sitzen, Liadan«, sagte Möwe freundlich. »Trink noch ein Bier.«
    Langsam setzte ich mich wieder hin. »Was ist mit ihm los?«, flüsterte ich und spähte über den Kreis hinaus. »Was habe ich gesagt?«
    »Lass ihn lieber ihn Ruhe«, murmelte Hund, der mich gehört hatte. »Er wird heute Nacht Wache stehen.«
    »Was?«
    »Neumond«, sagte Möwe. »Da übernimmt er immer die Wache. Er hat uns beiden gesagt, wir sollten schlafen. Er ist jetzt raufgegangen, um Schlange abzulösen. Ist ja auch ganz vernünftig – wenn er ohnehin wach sein wird, kann er genauso gut Wache

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