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Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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fest, dass ich befürchtete, er würde mir den Arm brechen. Er sagte nichts, aber ich hörte es wieder, in meinem Geist, eine Stimme wie die eines verängstigten Kindes; die Stimme eines Jungen, der so lange geweint hatte, dass er keine Tränen mehr hatte. Geh nicht. Geh nicht weg. Und im Licht der Laterne, die nun gefährlich in meiner freien Hand wackelte, bemerkte ich, dass Bran mich nicht wirklich sah. Er hielt mich fest, aber er starrte geradeaus, blind in dieser mondlosen Nacht.
    Der Schmerz von seinem Griff zog sich durch meinen ganzen Arm. Aber das zählte nicht mehr. Ich erinnerte mich, dass ich Heilerin war. Ich setzte mich vorsichtig neben ihn auf den Boden. Er atmete rasch und unregelmäßig; er schauderte. Dies schien eine Art wacher Albtraum zu sein.
    »Schon gut«, sagte ich leise, weil ich ihn nicht erschrecken und alles noch schlimmer machen wollte. Ich stellte die Laterne ab. »Ich bin hier. Jetzt ist alles gut.« Ich wusste genau, dass er nicht mich wollte. Dieses Kind, das ich hörte, rief nach jemandem, der längst nicht mehr da war. Aber ich war nun einmal hier. Ich fragte mich, wie viele solcher Nächte er ertragen hatte – Nächte, in denen er nicht schlafen wollte, damit diese finsteren Visionen ihn nicht überfielen.
    Ich versuchte, seine Finger von meinem Arm zu lösen, aber er hielt mich weiterhin fest. Tatsächlich krallte er seine Finger noch fester in mein Fleisch, als ich seine Hand berührte, wie ein Ertrinkender, der in seiner Panik beinahe den Retter mit sich abwärts zieht. Tränen traten mir in die Augen.
    »Bran«, sagte ich leise. »Du tust mir weh. Es ist jetzt alles gut. Du kannst mich jetzt loslassen.«
    Aber er reagierte nicht, sondern packte mich nur noch fester, so dass ich gegen meinen Willen vor Schmerz wimmerte. Ich wollte ihn nicht aus der Trance wecken, in der er sich befand. So etwas ist unklug, denn solche Anfälle haben einen Sinn, und man muss ihnen ihren Lauf lassen. Dennoch, er brauchte sich dem nicht allein zu stellen, obwohl es schien, dass er genau das vorgehabt hatte.
    Also blieb ich sitzen und zwang mich dazu, tief und ruhig zu atmen, und sagte mir, was ich anderen schon so oft gesagt hatte: Atme, Liadan. Der Schmerz wird vorübergehen. Die Nacht war sehr still; die Dunkelheit da draußen wie ein lebendiges Geschöpf, das um uns herumschlich. Ich spürte, wie angespannt Bran war, ich spürte sein Entsetzen und wie er sich anstrengte, es zu bewältigen. Ich konnte nicht hoffen, seinen Geist zu berühren, und ich wollte nichts weiter von den finsteren Bildern sehen, die sich dort befanden. Aber ich konnte immer noch sprechen, und es schien, dass Worte mein einziges Werkzeug waren, um hier draußen im Dunkeln zu bestehen.
    »Es wird einen neuen Morgen geben«, sagte ich leise. »Die Nacht kann sehr dunkel sein, aber ich werde bei dir bleiben, bis die Sonne aufgeht. Diese Schatten können dich nicht berühren, solange ich hier bin. Bald schon sehen wir die erste Spur Grau am Himmel, von der Farbe von Taubenfedern, dann die winzige Berührung des Fingers der Sonne, und ein Vogel wird mutig genug sein, als Erster von hohen Bäumen und dem offenen Himmel und der Freiheit zu singen. Dann wird alles heller, und die Farben kommen wieder zurück, und ein neuer Tag bricht an. Bis dahin werde ich bei dir bleiben.«
    Langsam ließ sein Griff ein wenig nach, und der Schmerz in meinem Arm wurde erträglicher. Mir war sehr kalt, aber ich würde auf keinen Fall näher zu ihm rücken. Das wäre ganz sicher gegen die Regel. Er würde das am nächsten Morgen ausgesprochen unangenehm finden. Die Zeit verging, und ich redete weiter und weiter, von harmlosen, sicheren Dingen, Bildern des Lichts und der Wärme. Ich wob aus meinen Worten ein helles Schutznetz, um die Schatten fern zu halten. Am Ende wurde es so kalt, dass ich aufgab und näher zu ihm hinrutschte, mich an seine Schulter lehnte und meine andere Hand über seine Finger legte, wo sie mich immer noch umklammerten. Evan, drinnen in der Höhle, hatte sich nicht gerührt.
    Wir saßen lange da, ich redete weiter, und Bran war still bis auf einen schaudernden Seufzer hier und da oder ein gemurmeltes Wort. Ich wunderte mich. Ich konnte kaum glauben, dass es irgendwo in diesem gnadenlosen Söldner ein kleines Kind gab, das Angst vor der Dunkelheit hatte. Ich wollte es unbedingt verstehen. Aber ich würde ihn niemals fragen können.
    In dem Augenblick, den ich beschrieben hatte, als der Himmel das erste, schwache Grau zeigte,

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