Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
Vom Netzwerk:
langes Würfelspiel mit dem Tod war?
    Die Sonne berührte Evans abgehärmte Züge mit ihrem goldenen Schein. Rings um uns her raschelten die Büsche.
    »Wenn du nichts dagegen hast, würde ich das hier gerne richtig machen. Wenn es dich nicht stört.«
    Bran nickte. Ich ging langsamen Schritts um das Grab herum, blieb dann mit dem Gesicht nach Osten stehen und spürte die Berührung des Windes auf meiner Haut.
    »Geschöpfe der Luft, wir ehren eure Anwesenheit. Der Geist dieses Mannes verlässt seinen Körper und reist auf dem Weg in die Anderwelt durch euer Reich. Tragt ihn auf euren Flügeln, gewährt ihm Zuflucht und helft ihm, schnell und gerade wie ein Pfeil zu fliegen.«
    Ich ging zur anderen Seite, nach Westen. Schattenflecken breiteten sich auf dem Boden aus. Ein einzelner Regentropfen fiel und hinterließ einen dunklen Kreis auf dem Boden.
    »Geschöpfe der Tiefe, Manannáns Volk, die ihr in den dunklen, geheimnisvollen Wassern lebt, seid mit uns. Tragt diesen Mann auf seiner Reise wie ein starkes Schiff aus Eichenholz, das die Wellen stolz und kräftig durchschneidet. Denn auch er war ein stolzer, starker Mann.«
    Nun bewegte ich mich weiter, nach Norden und zu dem riesigen, grasbedeckten Hügel hin.
    »Ihr, die ihr in der Erde weilt, deren geheimes Lied tief in ihrem Gedächtnis widerhallt, die ihr dem schlagenden Herzen unserer großen Mutter so nahe seid, hört mich an. Nehmt diese gebrochene Hülse eines guten Mannes und nutzt sie wohl. Möge er im Tod das Leben nähren. Möge er Teil des Alten und des Neuen werden, die sich an diesem Ort tiefsten Geheimnisses umeinander ranken.«
    Ich war beinahe fertig. Ich ging zum Kopf des Grabes und stand nun neben Bran, dem Süden zugewandt.
    »Als Letztes rufe ich euch, helle Salamander, Geister des Feuers. Erhebt euch und sendet euer Licht und nehmt einen von euch wieder auf. Denn dieser Mann war ein großer Schmied, der beste diesseits von Gallien und darüber hinaus, heißt es. Er übte sein Handwerk mit dem Feuer aus, und er nutzte es kundig und achtete seine Macht. Mit Feuer schmiedete er Waffen und Werkzeuge, er arbeitete und schwitzte und beugte das Eisen seinem Willen. Funke zu Funke, Flamme zu Flamme, lasst seinen Geist in den Himmel aufsteigen, wie sich die Hitze von einem großen Feuer hebt.«
    Oben auf dem Hügel brannte unser kleines Feuer immer noch. Jetzt konnte man es riechen, der Rauch wurde von starken, wechselhaften Böen herbeigetragen. Man konnte das Pulver riechen, das ich auf die Kohlen gestreut hatte, eine nur sehr geringe Menge, aber durchdringend und rein. Es waren die Wurzeln von Eisenhut und Kerbel, fein wie Staub gerieben, die ich genau für einen solchen Zweck tief in meiner Tasche mitgebracht hatte. Ich hatte so etwas nie zuvor tun müssen und hoffte, dass es nie wieder notwendig sein würde.
    Wir blieben einen Augenblick lang schweigend stehen, dann hob ich eine Hand voll Erde auf und streute sie ins Grab. Ich stellte fest, dass mir immer noch Tränen geblieben waren, aber ich hielt sie zurück und wartete, während Bran das Grab wieder zuschaufelte. Er arbeitete rasch und sorgfältig. Am Ende breitete er wieder Laub über das Grab und den einen oder anderen abgebrochenen Zweig. Es war, als wäre niemand da gewesen, kein Geschöpf außer vielleicht einem beutegierigen Eichhörnchen oder einer Waldmaus. Die Leiche würde wieder zu Erde werden. Der Geist war entwichen. Ich hatte getan, was ich konnte, um seine Reise zu beschleunigen.
    Nun war es vorüber, und ich konnte nicht länger vermeiden, meine Frage zu stellen. Ich konnte nicht länger nur für den Tag leben und so tun, als zählte morgen nicht. Ich würde mit ihm reden müssen. Ich würde ihn fragen müssen, was für uns beide als Nächstes kam.
    Aber wir sprachen beide kein Wort. Wir kehrten ans Feuer zurück; ich räumte meine Sachen auf, und er bereitete eine Art Mahlzeit zu – ich kann mich nicht mehr erinnern, was es war –, und wir saßen da und aßen in vollkommenem Schweigen. Dann holte er die silberne Flasche aus der Tasche, öffnete sie und trank. Er reichte sie mir, und ich nahm ebenfalls einen Schluck. Es war starker Alkohol. Ich fühlte mich ein wenig besser. Das Feuer war heruntergebrannt, aber der scharfe Geruch hing immer noch in der Luft. Ich reichte die Flasche zurück. Wir sahen einander nicht an. Niemand sagte etwas. Vielleicht warteten wir beide darauf, dass der andere redete. Die Zeit verging; die Sonne zog nach Westen, und Wolken türmten sich. Die

Weitere Kostenlose Bücher