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Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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liebevoll in den Arm zu nehmen und zu sagen, schon gut, Liadan, jetzt ist es vorüber. Das hast du gut gemacht. Weine, wenn du willst. Hier war niemand. Nur er. Und das war unerträglich.
    Ich zwang mich, mich zu bewegen. Evan lag still da, die Arme an den Seiten, die Augen geschlossen. Vielleicht war sein Geist noch nicht ganz von ihm gewichen, aber in der Morgendämmerung würde er verschwunden sein. Ich kniete mich neben ihn und beugte mich vor, um mit meinen Lippen seine zu streifen, seine Wangen zu berühren und über seine friedliche Miene zu staunen.
    »Lebe wohl«, flüsterte ich. »Du bist so tapfer gestorben, wie du gelebt hast. Jetzt ruh dich aus.«
    Als ich wieder auf die Beine kommen wollte, knickten sie beinahe unter mir ein, und die Sterne drehten sich vor meinen Augen. Bran fasste mich rasch an den Armen, bevor ich umfiel.
    »Du musst dich ausruhen. Geh wieder hinein. Nimm die Laterne. Ich halte Wache. Morgen haben wir genug Zeit, um zu tun, was getan werden muss.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich gehe da nicht rein. Nicht allein.« Meine Stimme klang seltsam und entfernt.
    »Dann leg dich hierher.« Eine feste Hand führte mich zur anderen Seite des Feuers. Dann lag ich auf einer Decke, und er breitete den Umhang über mich.
    »Ich kann nicht … du musst mich wecken, wenn …«
    »Still. Schlaf ein wenig. Ich wecke dich rechtzeitig.«
    Zu müde, um zu weinen, zu müde, um zu schlafen, tat ich, was er mir gesagt hatte, und schlief.
    ***
    Ich wollte nicht mehr weinen. Ich fühlte mich hohl und leer, als wäre alle Bedeutung aus mir herausgesaugt und als triebe ich leicht wie ein vertrocknetes Blatt, der Gnade der vier Winde überlassen. Ich hatte keine Tränen mehr. In meinem kurzen Schlaf hatte ich Träume von seltsamer Intensität gehabt, die ich nicht hätte zusammenhängend erzählen können. Ich erinnere mich, am Rand einer Klippe gestanden zu haben, die so hoch war, dass man darunter nur wirbelnde Nebelschwaden sah, und eine Stimme erklang, die mir zurief, Spring. Du weißt, du kannst die Dinge verändern. Tu es, spring. Ich war erleichtert, kurz nach der Morgendämmerung wieder zu erwachen und mich damit beschäftigen zu können, die Leiche des Schmieds mit sauberem Wasser zu waschen, in dem ich ein paar Blätter der Poleiminze eingeweicht hatte, die im Überfluss am Bach wuchs. Es roch frisch und süß. Ich arbeitete rasch, aber mit Respekt. Bald würde die Leiche steif werden. Wir sollten ihn noch vorher bewegen. Bran war unten am Fuß des Hügels mit Graben beschäftigt. Ich fragte ihn nicht, wo er die Schaufel gefunden hatte. Ich entdeckte nun, da meine Arbeit beinahe vorüber war und ich Zeit hatte mich umzusehen, dass es draußen nicht ganz so aussah, wie ich mir vorgestellt hatte. Ein Pferd hatte mich erschreckt, als es aus dem Gebüsch kam und leise wieherte, während ich dort kniete. Es war ein kräftiges Geschöpf mit langer Mähne, eine Stute mit grauem Fell. Sie trug ein einfaches Halfter, war aber nicht angebunden. Ich nahm an, dass sie Brans Pferd war und gut genug erzogen, um nicht davonzulaufen. Es war also vielleicht wirklich möglich, diesen Ort zu verlassen.
    Die Sonne ging auf, aber es wehte ein scharfer Wind, und die Wolken wurden schwerer. Ich konnte das Meer riechen. Ich nahm an, dass es vor Einbruch der Nacht noch regnen würde. Vielleicht wäre ich dann nicht mehr hier. Ich beendete meine Arbeit und räumte auf, und dann rief ich nach Bran.
    »Wir sollten es jetzt tun.« Es wäre besser, noch zu warten, um ganz sicher zu sein. Es dauerte manchmal bis zu drei Tagen nach dem letzten Atemzug, bis der Geist den Körper verlassen hatte. Ein anderer Mann hätte vielleicht im Frieden in einer dunklen Kammer liegen können, umgeben von Kerzen, während Freunde und Verwandte sich verabschiedeten. Aber dieser Mann musste jetzt beerdigt werden, solange wir es noch tun konnten, und sein Grab würde nicht gezeichnet werden. Der Bemalte Mann hinterließ keine Spuren.
    Wir legten Evan mit dem Kopf nach Norden ins Grab. Dieses Grab war gut vorbereitet, Länge und Tiefe wohl berechnet, die Humusdecke mit den Pflanzen darauf ausgestochen und beiseite gelegt, um wieder darüber gedeckt werden zu können. Ich warf einen Blick auf meinen Begleiter. Seine Züge waren ruhig, aber er war ziemlich bleich. Ich nahm an, dass es ihm wenig bedeutete. Er machte es gut, weil er es viele Male getan hatte. Was scherte ihn schon der Verlust eines weiteren Mannes, wenn sein Leben ein einziges

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