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Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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er sie verlassen? Wie würden sie ohne ihn zurechtkommen? Wer würde seiner Frau das Holz hacken, wer würde seinem Sohn das Jagen beibringen? Da entsandte die Göttin ihre Weisheit tief in sein Herz, und er verstand. Deine Frau wird um dich trauern, aber ihre Liebe wird sie stark machen. Sie wird ihre Liebe in jedem Stich des Gewands, das sie näht, einfließen lassen (Eoghans Frau war Schneiderin), dein Sohn wird lernen, was für ein Mensch sein Vater war, wenn er dem Handwerk nachgeht, das du ihm beigebracht hat. Mit der Zeit wird auch er zum Mann werden, und er wird lieben und glücklich sein und die Willenskraft und die Wissbegierde weitertragen, die er von dir gelernt hat, als du von deinen Abenteuern erzähltest. Mit der Zeit wird dein Geist wieder bei ihnen sein; vielleicht in einem großen Baum, der Schatten spendet, in dem deine Enkel spielen. Vielleicht in einem Adler, der hoch über ihnen kreist und zusieht, wie deine Liebste die Laken zum Trocknen über die Büsche breitet, und dann schaut sie plötzlich zum Himmel auf und schirmt ihre Augen gegen das Sonnenlicht ab. Du wirst bei ihnen sein, und sie werden es wissen. Ich bin nicht grausam. Ich nehme und ich gebe.«
    Ich tastete über Evans Handgelenk und spürte die Stelle, wo sein Blut unter der Haut floss.
    »Er atmet immer noch«, sagte Bran leise. »Aber schwach. Ich weiß nicht, ob er dich hören kann.«
    Eine lange Geschichte, hatte Evan gesagt. Das bedeutete, ich musste weitererzählen. Aber nicht viel weiter. Mein ganzer Körper war starr und steif. Ich war so müde, dass ich vermutlich nur noch Unsinn redete.
    »Am selben Tag hatte Eoghans Sohn nach den Schafen gesehen, und sein Heimweg führte ihn an den gemeißelten Steinen vorbei, denn er spürte gern mit den Fingern den Linien nach. Eine lang gezogene Spirale; eine Kette aus vielen seltsamen Gliedern; ein grinsender Wolfshund, ein kleines, rätselhaftes Gesicht. Aber als er den Ort erreichte, war sein Vater dort, der friedlich auf dem Boden lag, die Augen weit zum Himmel geöffnet. Der Junge war noch keine zwölf Jahre alt, aber er war der Sohn seines Vaters. Also verschränkte er Eoghans Hände auf seiner Brust und schloss die blicklosen Augen, und dann lief er ins Dorf und holte zwei Männer mit einem Brett. Erst dann ging er ruhig nach Hause und brachte seiner Mutter die Nachricht. Und es war, wie die Göttin gesagt hatte. Sie trauerten, aber sie bauten weiter an ihrem Leben. Eoghans Liebe hatte sie stark gemacht. Sie umgab sie wie ein schimmernder Umhang, der ihre Herzen wärmte und ihre Geister klar hielt, und das blieb auch so, nachdem er gegangen war. Es blieb auch in den Gedanken seiner wahren Freunde, die die Erinnerung an ihn in ihren mutigen Taten und ihren Entdeckungsreisen aufrechterhielten. Eoghan war weitergezogen, durch die Anderwelt in sein nächstes Leben. Aber was er getan hatte, wer er gewesen war, das blieb noch lange Jahre hell und wahr. Denn das ist die Hinterlassenschaft eines guten Mannes.«
    Es gab ein rasselndes Geräusch, als Evan Luft holte, und sein Körper verkrampfte sich. Bran legte ihm einen Arm unter die Schulter und hob ihn ein wenig hoch.
    »Dreh ihn hierher«, sagte ich. »Nach Westen.« Die Zeit war gekommen. Meine Geschichte hatte gerade lange genug gedauert. Ich stand auf und schaute in den Sternenhimmel hinauf.
    »Manannán mac Lir, Sohn des Meeres«, rief ich mit der letzten Kraft meiner Stimme. »Nimm diesen Mann mit auf seine letzte Reise. Er hat lange und schwer gearbeitet, und er ist bereit zu gehen. Lass ihn nun mit günstigen Winden weitersegeln.« Ich hob die Arme und streckte sie nach Westen. Eine Wolke zog über den Mond, und die Blätter rührten sich. Ich glaubte, als die Bö über die Öffnung oben am Hügel zog, dass es leise und tief vibrierte, beinahe zu leise, als dass man es hören konnte, wie ein Ton vom Musikinstrument eines Riesen. Wie die uralte Stimme der Erde selbst. Ich machte ein Schutzzeichen in die Dunkelheit. Dana beschütze uns. Die Göttin führe unsere Schritte.
    Neben mir legte Bran den Schmied wieder auf die Decke nieder. Ich brauchte nicht zu fragen. Es war vorüber. Der Tag war vorüber. An morgen würde ich nicht denken. Mein Rücken tat weh, mein Kopf war geschwollen von ungeweinten Tränen, und ich war so müde, dass ich nicht glaubte, mich noch bewegen zu können, und immer noch nach Westen starrte, aber nichts mehr sah. Was ich brauchte, war unmöglich. Zu Hause wäre jemand in der Nähe gewesen, um mich

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