Der Sohn der Schatten
Luft war schwer von Feuchtigkeit. Nach Hause, dachte ich vage, ich muss nach Hause gehen. Ich muss ihn jetzt fragen. Aber ich fragte nicht. Eine Traurigkeit hing über mir, das Gefühl zu treiben, plötzlich auf einem unbekannten Weg in einem unbekannten Land zu sein. Also saß ich einfach da, statt darüber nachzudenken, nahm die Flasche, wenn er sie mir anbot, und reichte sie wieder zurück. Nach einer Weile war sie leer, und wir hatten immer noch nichts gesagt. Mein Kopf war trüb, meine Gedanken abgerissen. Wie konnte man ohne menschliche Berührung leben? War das nicht das Erste, was man erfuhr, wenn man zur Welt kam und sie einen auf den Bauch der Mutter legten? Sie hob dann die Hand und strich einem über den Rücken und legte die Hand auf den Kopf und lächelte durch Tränen der Erschöpfung und des Staunens. Diese liebevolle Berührung war das Erste, was man spürte. Später hielt sie einen in den Armen und sang. Etwas Einfaches, etwas sehr Altes wie … wie war das noch? Es gab ein Schlaflied, ein kleines Fragment eines Lieds in einer so alten Sprache, dass sich niemand mehr erinnerte, was die Worte bedeuteten. Ich summte es leise vor mich hin. Meine Mutter hatte mir und Sean dieses Lied so oft vorgesungen, dass es tief in uns gesunken war. Hier an diesem Ort uralter Geister fühlte sich das Lied richtig an. Während ich sang, erhob sich der Wind über dem großen Hügel mit der verborgenen Öffnung, und ich hörte wieder diesen leisen, tiefen Ton, der kam und ging, als wäre er Teil meines Liedes, als kämen die Worte aus der Tiefe der Erde selbst. Spring, sagte die Stimme. Spring jetzt. Eine Träne lief mir über die Wange – oder war es ein Regentropfen? Wenn ich weinte, dann verstand ich nicht, warum. Das Lied ging zu Ende, aber die tiefe Stimme des Windes erklang weiterhin, und die Wolken sammelten sich. Ich sah Bran an, und wollte vorschlagen, dass wir uns einen anderen Platz suchten. Das graue Pferd hatte sich bereits hinter die Bäume zurückgezogen.
Bran schlief. Das war nicht überraschend, denn er hatte nicht die kurze Ruhepause gehabt, die ich vor der Dämmerung genossen hatte. Er bot einen seltsamen Anblick, die wild gezeichnete Haut, der nietenbesetzte Ledergürtel und die Waffe an seiner Seite, in scharfem Gegensatz zu seiner Haltung, die Knie hochgezogen, den Kopf auf den Arm gelegt, die Faust am Mund. Er schien so verwundbar wie ein kleines Kind. Er hatte tiefe Schatten unter den Augen. Selbst ein solcher Mann konnte nicht ewig ohne Schlaf zurechtkommen, ohne davon gezeichnet zu werden. Ich stand leise auf, holte den Umhang und legte ihn ihm sorgfältig über die Schultern. Ich wollte ihn nicht wecken, denn ich wusste, dass es ihm nicht gefallen würde, dass ich ihn so gesehen hatte – ohne all seine Schutzmauern. Am besten wäre es, ihn in Ruhe zu lassen. Das Beste wäre tatsächlich, sein Pferd und ein scharfes Messer zu nehmen und ihn hier zu lassen. Nach Hause zu gehen. Nach Süden, nach Sevenwaters. Ich würde noch vor Einbruch der Abenddämmerung die Straße erreichen, wenn ich schnell ritt.
Aber ich ging nicht. Oder jedenfalls nur so weit, um ihm Ruhe zu geben. Ich wickelte mich in eine Decke gegen den Regen, nahm die Laterne für später und ging zum anderen Ende des Hügels, zu dem kleinen Teich, wo ich mich auf den glatten Steinen niederließ, während der Himmel dunkler wurde und die Violettfärbung der Abenddämmerung annahm. Immer noch zogen Wolken über mich hinweg, metalldunkel, mit einem rosa Rand. In der Ferne grollte Donner. Feigling, sagte ich zu mir selbst. Warum bist du nicht gegangen, als du noch konntest. Du willst doch nach Hause, oder? Warum nutzt du dann nicht die Gelegenheit? Das ist einfach dumm. Aber unter diesen Worten lag eine seltsame Ruhe, das Gefühl, wie man es hat, wenn man ins Unbekannte hinausgeht, wenn sich alles verändert hat und man darauf wartet, es zu begreifen.
Ich saß lange Zeit dort. Es wurde dunkel bis auf den kleinen Kreis vom Laternenlicht, der sich im schwarzen Wasser widerspiegelte. Ein paar Regentropfen fielen auf die Steine. Zeit, nach drinnen zu gehen, dachte ich. Aber ich konnte es nicht. Etwas hielt mich hier, etwas ließ mich bleiben, wo ich war, zwischen diesen seltsamen, gemeißelten Steinen, die ihre Köpfe über den Farn hoben, hier, wo die Stimme der Erde im Wind nach mir rief. Vielleicht würde ich die ganze Nacht hier bleiben. Vielleicht würde ich im Dunkeln hier bleiben, und am Morgen gäbe es nur einen weiteren
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