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Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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seltsamen, gemusterten Stein und Liadan wäre verschwunden …
    Es war kalt. Das Unwetter war nahe. Zu Hause würde meine Mutter ruhen und Vater am Bett sitzen und vielleicht im Kerzenlicht an seinen Berichten über die Felder schreiben, vorsichtig die Feder ins Tintenfass stecken und hin und wieder Sorcha einen Blick zuwerfen, während sie dort lag wie ein kleiner Schatten, ihre Hände klein und zierlich, weißer als das Betttuch. Mein Vater würde nicht weinen. Nicht so, dass man es sehen konnte. Er vergrub seinen Schmerz tief drinnen. Nur jene, die ihm an nächsten standen, wussten, dass es ihm das Herz zerriss. Ich stand auf und schlang die Arme um meinen Oberkörper. Zu Hause. Ich musste nach Hause gehen. Sie brauchten mich. Ich brauchte sie. Hier gab es nichts mehr für mich. Es war dumm von mir, auch nur zu denken, dass … dass …
    »Liadan.« Brans Stimme war nur leise. Ich drehte mich langsam um. Er war sehr nah, keine zwei Schritte entfernt. Es war das erste Mal, dass ich hörte, wie er meinen Namen aussprach. »Ich dachte, du wärst weg«, sagte er.
    Ich schüttelte den Kopf und schniefte.
    »Du weinst«, sagte er. »Du hast dein Bestes getan. Niemand kann mehr tun als das.«
    »Ich … ich hätte nicht … ich …«
    »Es war ein guter Tod. Und das ist dein Verdienst. Jetzt kannst du … jetzt kannst du nach Hause gehen.«
    Ich stand da und starrte ihn an und brachte kein Wort heraus.
    Er holte tief Luft. »Ich wünschte … ich wünschte, ich könnte diese Tränen trocknen«, sagte er verlegen. »Ich wünschte, ich könnte es besser für dich machen. Aber ich weiß nicht, wie.«
    Ich weiß nicht, was es war, das mich veranlasste, diesen einen Schritt vorwärts zu tun. Vielleicht das Zögern in seiner Stimme. Ich wusste, was es ihn gekostet hatte, so zu sprechen. Vielleicht war es nur die Erinnerung daran, wie er ausgesehen hatte, als er schlief. Ich wusste nur, wenn ich ihn nicht berührte, würde ich in Stücke zerbrechen. Spring, rief der Wind. Spring hinüber. Ich schloss die Augen, ging auf ihn zu, schlang die Arme um seine Taille, legte den Kopf an seine Brust und ließ die Tränen fließen. Siehst du, sagte die Stimme tief in mir. Siehst du, wie leicht es war? Bran war vollkommen reglos, dann legte er recht vorsichtig die Arme um mich, als wäre es etwas, das er nie zuvor getan hatte, und als wäre er nicht sicher, wie er es machen sollte. Wir standen eine Weile da, und es fühlte sich gut an, so gut, als käme man nach langen Anstrengungen nach Hause zurück. Bis ich seine Berührung spürte, hatte ich nicht gewusst, wie sehr ich mich danach gesehnt hatte. Bis ich ihn umschlungen hielt, war mir nicht klar gewesen, dass er genau die richtige Größe hatte, um seine Arme bequem um meine Schultern legen zu können. Damit ich meine Stirn an seinen Halsansatz legen konnte, wo das Blut unter der Haut pochte. Es passte vollkommen.
    Ich kann nicht sagen, an welchem Punkt diese Umarmung, die als tröstliche begonnen hatte, zu etwas ganz anderem wurde. Ich kann nicht sagen, was zuerst geschah, dass seine Lippen mein Augenlid berührten, meine Schläfe, meine Nasenspitze, meinen Mundwinkel; dass meine Hände sich um seinen Hals schlangen, meine Finger sich in sein Hemd stahlen, um über die glatte Haut zu streichen. Beide erkannten wir den Augenblick der Gefahr. Sobald seine Lippen meine berührt hatten, war es nicht mehr möglich, unsere Münder voneinander zu trennen, und dieser Kuss war kein keusches Zeichen der Freundschaft, sondern eine verzweifelte, gierige Begegnung von Lippen und Zähnen und Zungen, die uns atemlos zittern ließ.
    »Das können wir nicht tun«, murmelte Bran, als seine Hand über die Wölbung meiner Brust in dem alten Hemd fuhr.
    »Wirklich nicht«, flüsterte ich und zog mit den Fingern die Spiralen und Wirbel nach, die die rechte Seite seines glatt rasierten Schädels bedeckten. »Wir sollten … wir sollten vergessen, dass dies geschehen ist … und …«
    »Still«, hauchte er gegen meine Wange, und seine Hände bewegten sich weiter über meinen Körper, und der Augenblick innezuhalten war für immer verloren. Begierde flackerte so leidenschaftlich und plötzlich und unaufhaltsam zwischen uns auf wie ein großes Wildfeuer, das alles auf seinem Weg verschlingt, eine wilde Begegnung, die ebenso freudig wie erschreckend war in ihrer Macht. Es begann zu regnen, und die Steine, auf denen wir eng umschlungen lagen, waren von Wasser überzogen, und wir waren vollkommen

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