Der Sohn der Schatten
»Reite nach Osten, die Straße führt dort hin. Dann nach Süden nach Littlefolds. Es ist nicht sonderlich weit.«
Dann legte er die Hände um meine Taille und hob mich in den Sattel; aber eine Hand ließ er immer noch auf meinem Oberschenkel liegen, als könne er nicht ganz loslassen.
»Liadan«, sagte er und starrte zu Boden.
»Ja«, flüsterte ich.
»Heirate nicht diesen Eamonn. Sag ihm, wenn er dich nimmt, wird er sterben.« Das war ein Gelübde.
»Aber …«
Dann schlug er dem Pferd aufs Hinterteil, und gehorsames Tier, das es war, machte es sich im scharfen Kanter davon. Und bevor ich noch Lebewohl sagen konnte, war er schon verschwunden, und es war zu spät.
***
Es hatte keinen Sinn, zornig zu sein. Es war vorüber. Ich würde den Bemalten Mann nie wieder sehen. Es war Zeit, nach Hause zu gehen, und noch vor dem Neumond würde all dies zu einer Erinnerung werden wie ein fantastischer Traum. Das flüsterte ich der kräftigen grauen Stute zu, als sie stetig unter den Bäumen nach Osten trabte, vorbei an einsamen Bächen und vorsichtig zwischen den Felsen hindurch zur Straße. Ich brauchte ihre Schritte nicht zu lenken; sie schien ihren Weg zu kennen.
Als die Sonne hoch am Himmel stand, legten wir an einem Bach eine Rast ein. Die Stute trank und begann zu grasen. Ich öffnete meine Tasche und entdeckte Käse und trockenes Brot in ein Tuch gewickelt. Für einen Mann, der es kaum erwarten konnte, mich nicht mehr sehen zu müssen, war er überraschend sorgfältig gewesen. Aber ich nahm an, dass er einfach dem gut geübten Muster eiliger Aufbrüche folgte, von Entscheidungen auf der Flucht. Das war sein Leben. Es hat ihm einen Schlag nach dem anderen versetzt, und er nahm sie hin und bewegte sich weiter. Ich versuchte angestrengt, nicht an ihn zu denken. Nach Hause. Darauf musste ich meine Gedanken richten. Irgendwann, wenn ich weit genug von ihm entfernt war, musste ich die Kraft meines Geistes nutzen, um meinem Bruder Sean eine Botschaft zu schicken, damit er mir entgegenreiten konnte. Noch nicht, dachte ich. Wenn du es zu früh tust, werden die Truppen von Sevenwaters Bran und seine Männer verfolgen. Ich hatte von Zeit zu Zeit im Lager ein Ziehen an meinen Gedanken gespürt, ein Eindringen, meinen Bruder, der lautlos rief: Liadan! Liadan, wo bist du?, aber ich hatte mich vor ihm verschlossen. Ich hatte nicht vor, die Bande des Bemalten Mannes zu verraten und sie damit zu vernichten.
Wir zogen weiter. Ich wurde langsam müde; ich hatte wenig geschlafen, und obwohl ich es nicht wollte, hörte ich wieder und wieder die Worte dieses Morgens in meinem Kopf. »Fass mich nicht an. Ich will dich nicht mehr hier. Betrachte es als Bezahlung für geleistete Dienste.« Ich mahnte mich, nicht dumm zu sein. Was hatte ich erwartet – dass ich sein Leben für immer verändern könnte, wie er das meine verändert hatte?
Ich schickte meine Gedanken voraus nach Hause, zu meiner Rückkehr. Was sollte ich meiner Familie erzählen? Nicht, wo ich gewesen war, nichts von den Gesetzlosen, die meine Hilfe gesucht hatten und die gegen alle Regeln zu meinen Freunden geworden waren. Ganz bestimmt nichts von dem Mann, dem ich mich so unüberlegt hingegeben hatte. Hatte ich nicht den Fehler meiner Schwester wiederholt? Daraus folgte, wenn die Wahrheit herauskäme, könnte ich keine bessere Behandlung erwarten, als sie die arme Niamh erhalten hatte. Eine hastige Heirat und prompte Verbannung fern von Familie und Freunden, fern vom Wald. Ich schauderte. Sevenwaters war mein Zuhause; seine dunkle Schönheit war tief in meinem Geist eingebrannt. Aber ich hatte die Dinge verändert, ich hatte mich mit dem Bemalten Mann hingelegt, und ganz gleich, wie grausam seine abweisenden Worte gewesen waren, er war nun ein Teil von mir. Ich wollte die Wahrheit sagen; ich wollte meinen Vater fragen, welches dunkle Geheimnis in seiner Vergangenheit dazu geführt hatte, dass dieser Mann mich und die Meinen so gefährlich hasste. Wenn ich es nicht erzählte, würde ich nie erfahren, warum Bran mich weggeschickt hatte. Und dennoch, ich würde nicht darüber sprechen können.
Ich hörte Hufschlag neben mir, links und rechts. Leisen Hufschlag, einen tänzelnden, zarten Gang. Mein Pferd schauderte und zuckte nervös mit den Ohren. Ich sah mich um. Niemand war da. Nachmittagsschatten zitterten in der Sommerbrise. Ich glaubte, leises Lachen zu hören. Und immer noch die begleitenden Schritte, als wären unsichtbare Geschöpfe an meiner Seite. Mit
Weitere Kostenlose Bücher