Der Sohn der Schatten
klopfendem Herzen zügelte ich die Stute und wartete schweigend. Die Geräusche hörten auf.
»Also gut«, sagte ich so ruhig ich konnte und versuchte, mich an alles zu erinnern, was Iubdan mir über Selbstverteidigung beigebracht hatte. »Wo seid ihr? Wer seid ihr? Kommt heraus und zeigt euch!« Und ich zog den kleinen Dolch, den mein Vater mir gegeben hatte, vom Gürtel und hielt ihn bereit – für was, wusste ich nicht.
»Das wirst du nicht brauchen, noch nicht.« An meiner Seite saß ein Mann auf einem Pferd. Ein Beinahe-Mann auf einem Beinahe-Pferd. Er war nicht plötzlich erschienen, es war mehr, als wäre er die ganze Zeit da gewesen, und als hätte ich ihn nur nicht sehen können, bevor er gesehen werden wollte. Sein Haar war von derselben unmöglichen Farbe wie sein Pferd, ein helles Mohnrot, und seine Kleider hatten viele Farben und wechselten diese wie der Sonnenuntergang. Er war ausgesprochen groß.
»Reite weiter«, riet eine Stimme von der anderen Seite, und meine Stute bewegte sich ohne Ermutigung vorwärts. »Du hast noch einen langen Weg durch den Wald.« Die Frau, die da sprach, hatte schwarzes Haar, einen blauen Umhang und war von bleicher Schönheit. Ich hatte mich manchmal gefragt, ob ich sie je sehen würde, wie meine Mutter sie gesehen hatte: die Herrin des Waldes und den flammenhaarigen Mann, der ihr Gefährte war. Ich schluckte und fand meine Stimme wieder.
»Was wollt ihr von mir?«, fragte ich und starrte staunend ihre hoch gewachsenen Gestalten und die zerbrechlichen Nichtpferde an, die sie ritten.
»Gehorsam«, sagte er und wandte mir seine zu glänzenden und zu hellen Augen zu. Ihn anzuschauen war, als starrte man ins Herz eines gewaltigen Feuers. Wenn man zu lange hinsah, würde man sich verbrennen.
»Gesunden Menschenverstand«, meinte die Dame.
»Ich bin auf dem Heimweg.« Ich konnte mir nicht vorstellen, wie so etwas solche mächtigen Wesen im Geringsten interessieren sollte. »Ich habe ein gutes Pferd und warme Kleidung und eine Waffe, die ich zu benutzen weiß. Morgen Früh werde ich nach meinem Bruder rufen. Ist das nicht vernünftig genug?«
Er brüllte vor Lachen – ein Geräusch, das die Erde zum Beben brachte. Ich spürte das Schaudern durch den Körper des kleinen grauen Pferdes, aber das Tier ging gehorsam weiter vorwärts. »Das genügt nicht.« Die Stimme der Herrin war sanfter, aber sehr ernst. »Wir wollen, dass du etwas versprichst, Liadan.«
Das gefiel mir überhaupt nicht. Ein Versprechen gegenüber dem Feenvolk musste gehalten werden, wenn man auch nur einigermaßen bei Verstand war. Die Konsequenzen, ein solches Versprechen zu brechen, waren undenkbar. Diese Geschöpfe verfügten über unvorstellbare Macht. Alle Geschichten berichteten darüber.
»Was für ein Versprechen?«
»Das Schicksal von Sevenwaters, ja das Schicksal der Inseln könnte in deinen Händen liegen«, sagte der rothaarige Mann.
»Die ganze Zukunft deiner Art und unserer Art hängt vielleicht von dir ab«, stimmte die Herrin zu.
»Wie meint ihr das?« Vielleicht klang ich ein wenig nörglerisch; es war ein langer Tag gewesen.
Sie seufzte. »Wir hatten gehofft, unter den Kindern von Sevenwaters eines zu finden, das die Kraft und Geduld deines Vaters mit denselben Begabungen deiner Mutter vereint. Eines, das unsere Bemühungen zu einem Ende bringen wird. Ihr habt uns enttäuscht. Es scheint, als wäret ihr von rauerer Art und verstündet wenig, was über die Begierden des Fleisches hinausgeht. Deine Schwester wurde verlockt, vom Weg abzuweichen. Deine eigene Entscheidung war äußerst unklug. Du hättest den Stimmen nicht gehorchen dürfen.«
»Stimmen?«
»Den Stimmen der Erde, dort an dem alten Ort. Du hättest ihnen nicht gehorchen dürfen.«
Ich zitterte, gefangen zwischen Angst und Zorn. »Verzeiht mir«, sagte ich, »aber waren das nicht die Stimmen vom Feenvolk, wie auch ihr es seid?«
Sie schüttelte den Kopf und zog im Unglauben über meine Dummheit die Brauen hoch. »Eine ältere Art. Primitiv. Wir haben sie verbannt, aber sie sind immer noch da. Sie werden dich in die Irre führen, Liadan. Sie haben es bereits getan. Du darfst ihnen nicht lauschen.«
Ich runzelte die Stirn. »Ich bin in der Lage, meine eigenen Entscheidungen zu treffen, und brauche kein Zureden. Und ich bedauere nichts von dem, was ich getan habe. Und was ist mit der Prophezeiung? Wird sie sich nicht eines Tages erfüllen? Obwohl ihr mich und meine Schwester ablehnt, gibt es noch ein Kind, meinen
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