Der Sohn der Schatten
nicht viel in dieser Nacht. Vielleicht wussten wir beide, dass die Zeit nur zu schnell vorüberging; dass im Morgengrauen morgen zu heute werden würde und Entscheidungen getroffen werden mussten. Und das Undenkbare gedacht. Wer würde eine solch kostbare Nacht mit Schlaf verschwenden? Also berührten wir einander und flüsterten und bewegten uns gemeinsam im Dunkeln. Mein Herz war so voll, dass es drohte überzufließen, und ich dachte: Dieses Gefühl wird mir für immer bleiben, ganz gleich was geschieht. Selbst wenn … selbst wenn … Gegen Tagesanbruch schlief er ein, den Kopf an meiner Brust, und einmal schrie er im Traum auf, Worte, die ich nicht verstehen konnte, und bewegte seinen Arm heftig, als wollte er etwas wegschieben.
»Still«, sagte ich mit laut klopfendem Herzen. »Still, Bran. Ich bin hier. Du bist in Sicherheit. Es ist alles in Ordnung.« Ich hielt ihn in meinen Armen und starrte hinauf zur gewölbten Decke und beobachtete, wie das Licht in der schmalen Öffnung dort heller wurde. Lass es noch nicht dämmern, flehte ich lautlos. Bitte noch nicht. Aber der Regen hatte aufgehört und die Sonne ging auf, und das Lied der Waldvögel begann, durch die kühle Luft zu uns zu dringen. Am Ende konnte ich nicht länger so tun, als wäre dieser dunkle, geheime Ort, in dem wir beide uns befanden, Wirklichkeit und der Rest ein Traum.
Schweigend standen wir auf und zogen uns an, und ich faltete die Decken, während er nach draußen ging und sich um das Pferd kümmerte und nach trockenem Holz suchte. Was konnten wir sagen? Wer würde es wagen, damit anzufangen? Als das Feuer entfacht war und Wasser darüber hing, setzten wir uns nicht gegenüber, wie wir es immer zuvor getan hatten, sondern dicht nebeneinander, berührten uns, hielten uns an den Händen. Das Licht wurde heller. Es gab keine Wegweiser hier. Wir waren gemeinsam schiffbrüchig.
»Du hast immer tauschen wollen«, sagte Bran schließlich und klang, als müsste er sich die Worte entreißen. »Frage für Frage?«
»Vielleicht. Wer ist als Erster dran?«
Er streifte mit den Lippen sanft meine Wange. »Du, Liadan.«
Ich holte tief Luft. »Wirst du mir jetzt deinen Namen nennen? Deinen wirklichen Namen? Wirst du mir damit trauen?«
»Ich bin zufrieden mit dem Namen, den du mir gegeben hast.«
»Das ist keine Antwort.«
»Was, wenn ich dir sagte, dass der Name, den man mir gegeben hat, vergessen wurde?« Seine Hand in meiner spannte sich an. »Dass ich gelernt habe zu glauben, mein Name sei Abschaum, Straßenköter, Dreck, dass ich diesen Namen so oft gehört habe, dass ich mich an keinen anderen mehr erinnere? Ein Name ist Stolz, ein Ort. Ein wertloses Geschöpf hat keinen Namen, nur Schimpfworte.«
Ich konnte kaum sprechen. »Hast du deshalb … kannst du mir sagen, wann du …« Meine Finger berührten leicht die Innenseite seines Handgelenks, wo es eine winzige Lücke in dem kunstvollen Muster gab. Eine leere Fläche, ein gleichmäßiges Oval, und in der Mitte war das Bild eines kleinen Insekts, vielleicht eine Biene. Schlicht ausgeführt, aber vollendet in jeder Einzelheit, fein geäderte Flügel, dünne Beine, dicker, ordentlich gestreifter Körper. Es war die einzige Stelle, an der es ein so klares Bild gab.
»Du verstehst es beinahe zu gut«, sagte er grimmig. »Ich habe diese Schimpfworte lange gehört. Als ich neun Jahre alt war, beschloss ich, dass ich ein Mann wäre, und ich … lief vor diesem Leben davon. Zog weiter. Von dieser Zeit an bin ich meinen eigenen Weg gegangen. Das hier«, und er berührte das kleine Insekt, »war der Anfang. Ich hörte von einem Handwerker, der für Geld solche Arbeit machte. Er sagte mir, ich sei zu jung, zu klein für das, worum ich ihn bat. Aber alles, was ich hatte, waren dieser Körper, diese Hände. Die Vergangenheit war weg, ich hatte sie ausgelöscht. Die Zukunft war unvorstellbar. Ich brauchte … nun, er hörte mir zu, und er sagte, komme wieder, wenn du fünfzehn Jahre alt und ausgewachsen bist. Dann werde ich tun, worum du mich bittest. Aber ich bestand darauf, und am Ende sagte er, also gut. Ein einziges, kleines Bild, und den Rest, wenn du ein Mann bist. Ich bin ein Mann, sagte ich. Zumindest hat er mich nicht ausgelacht. Und dann hat er das hier gemacht, sehr klein, wie du siehst, aber es war ein Anfang. Der Rest kam später und über lange Zeit.«
»Hast du das Muster selbst ausgewählt und dieses … kleine Geschöpf?«
Er nickte.
»Warum das?«
»Du hattest jetzt schon vier
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