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Der Sohn des Azteken

Der Sohn des Azteken

Titel: Der Sohn des Azteken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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vor langer, langer Zeit das heimatliche Michihuacan verlassen haben mußten. Die abweichende Sprache der Frauen war ebenso ein Beweis dafür wie die Tatsache, daß sie den sehr alten Brauch der Purémpe nicht kannten, sich den Kopf kahl zu rasieren.
    Wenn Grille mich nicht gerade mit Essen verwöhnte, hatte sie keine Bedenken, meine unzähligen Fragen zu beantworten. Meine erste Frage galt den Häusern der Frauen, die keine Häuser waren.
    Die Inseln sind von Kokospalmen gesäumt und außerdem an den Hängen mit dichten Hartholzwäldern bewachsen. Doch die Frauen leben den ganzen Tag im Freien und suchen nachts zum Schlafen Schutz unter umgestürzten Bäumen. Sie graben kleine Höhlen oder verschließen, wenn ein Stamm schief liegt, die Seiten mit Palmwedeln oder Rindenstücken. Man überließ mir einen solchen behelfsmäßigen Unterschlupf neben dem, den Ixinatsi mit ihrer vierjährigen Tochter teilte. Das Mädchen hieß Tiripetsi, so wie die gelbe Blume.
    Ich fragte: »Es gibt hier so viele Bäume. Wieso zerschneidet ihr sie nicht zu Brettern und baut anständige Häuser daraus? Ihr könntet auch junge Bäume dafür verwenden, die man nicht erst zerschneiden muß.« Sie antwortete: »Das wäre sinnlos, Tenamáxtli. In der Regenzeit gibt es oft schreckliche Stürme, die alles Bewegliche von den Inseln fegen. Jedes Jahr werden sogar viele der starken Bäume umgeworfen. Deshalb befinden sich unsere Schlafstätten unter gefallenen Bäumen, damit wir nicht davongeweht werden. Wir bauen nichts, was sich nicht leicht ersetzen läßt. Aus diesem Grund versuchen wir auch nicht, Gärten oder Felder anzulegen. Das Meer schenkt uns Nahrung im Überfluß, wir haben Bäche mit gutem Trinkwasser und Kokosnüsse, um Süßigkeiten daraus zu bereiten. Die Kinúcha sind das einzige, was wir ernten. Wir tauschen sie gegen alle anderen Dinge ein, die wir benötigen.« Sie lächelte und fügte munter hinzu: »Wir brauchen wenig.« Wie um das Gesagte zu veranschaulichen, fuhr sie mit der Hand an ihrem Körper entlang.
    Das Wort Kinúcha bedeutet natürlich Perlen. Wie sich herausstellte, gab es gute Gründe dafür, daß die Frauen der Inseln wenig von der Welt hinter dem Meer brauchten. Bis auf die kleinen Mädchen verbrachten sie alle den Tag mit harter Arbeit, die sie so sehr ermüdete, daß sie in den Nächten tief und fest schliefen. Abgesehen von den kurzen Pausen, die sie sich zum Essen und für notwendige Verrichtungen gönnten, arbeiteten oder schliefen sie. Etwas anderes konnten sie sich nicht vorstellen. Der Gedanke an Unterhaltung und Vergnügen ließ sie so gleichgültig wie das Fehlen von Männern als Gefährten und Brüder für ihre Töchter.
    Ihre Arbeit ist unbestreitbar anstrengend – und, wie ich glaube, unter den weiblichen Beschäftigungen einmalig. Sobald es morgens hell genug ist, schwimmen die meisten Mädchen und Frauen oder rudern auf Flößen auf das Meer hinaus. Am Arm jeder Frau hängt ein locker, aus biegsamen Zweigen geflochtener Korb. Die Frauen tauchen bis in die späte Abenddämmerung immer wieder zum Meeresgrund hinab, um die Austern loszubrechen, die es vor den Inseln in großen Mengen gibt. Sie kommen mit dem gefüllten Korb nach oben, entleeren ihn am Strand oder auf dem Floß und tauchen, um ihn von neuem zu füllen. Die Mädchen, die zu jung, und die Frauen, die zu alt zum Tauchen sind, übernehmen die mühsame Arbeit, die Austern zu öffnen und sie beinahe fast alle wegzuwerfen.
    Die Frauen wollen nicht die Austern, wenn man von den wenigen absieht, die sie essen. Sie suchen die Kinúcha, die Herzen der Austern – die Perlen. Während meiner Zeit auf den Inseln habe ich genug Perlen gesehen, um damit den Bau einer großen neuen Stadt in diesem Frauenparadies bezahlen zu können, falls eine Stadt gewünscht worden wäre. Die meisten Perlen waren vollkommen rund und glatt. Manche waren unregelmäßig und birnenförmig, einige hatten die Größe von Fliegenaugen, andere die meines halben Daumens. Doch am häufigsten waren Größen zwischen diesen beiden Extremen. Die Mehrzahl hatte einen sanften weißen Schimmer, doch es gab auch Rosa- und blasse Blautöne. Hin und wieder hatte eine Perle sogar die silbergraue Farbe einer Gewitterwolke. Perlen sind deshalb so wertvoll und werden so sehr geschätzt, weil sie selten und schwierig zu finden sind. Obwohl man annehmen sollte, daß wenn eine Auster ein Herz hat, auch alle anderen eins haben müßten.
    »Ein Herz haben sie alle«, sagte Grille. »Aber nur

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