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Der Sohn des Azteken

Der Sohn des Azteken

Titel: Der Sohn des Azteken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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abscheuliche G’nda Ké ist nicht wirklich gestorben. Warum hätte sie gerade jetzt sterben sollen, wenn niemand sie in all diesen vielen Jahre hat töten können?« Und: »Sie hat einmal gedroht, ich würde sie nie loswerden. Da sie nur gelebt hat, um Böses zu tun, kann sie sehr wohl so lange wie das Böse leben, und das muß bis zum Ende der Zeit sein.«
    Und: »Sie hat Rache an uns genommen, weil wir zugesehen haben, wie sie scheinbar gestorben ist. Bei Ualiztli ist es schnell gegangen, an mir rächt sie sich langsam. Was sie wohl dem armen unschuldigen Ticitl dort in Bakúm Entsetzliches angetan hat …?«
    Und schließlich: »Irgendwo sitzt sie und freut sich hämisch über meine hoffnungslose Lage, über meinen jämmerlichen Versuch, am Leben zu bleiben. Sie soll in Mictlan schmachten! Ich flehe die Götter an, ich möge sie dort niemals treffen.«
    Dann sagte ich, in mein Los ergeben: »Ich vertraue mein Geschick den Göttern von Wind und Wasser an, und ich hoffe, nach meinem Tod Tonatiucan würdig zu sein …« Damit warf ich mein Paddel beiseite und streckte mich im Acáli aus, um zu schlafen, während ich auf das unvermeidliche Ende wartete.
    Ich habe gesagt, ich wünschte beinahe bis zum heutigen Tag, die Reise wäre weiterhin so ereignislos verlaufen, wie sie begonnen hatte. Ich hätte den guten Ticitl Ualíztli nicht verloren, ich hätte bald Aztlan und die liebe Améyatl wiedergesehen, und danach wären Nochéztli, mein Heer und ich in den Krieg gezogen. Doch wenn sich alles so ereignet hätte, wäre ich nicht in das außergewöhnlichste aller Abenteuer meines Lebens getrieben worden, und ich hätte nicht die außergewöhnliche junge Frau getroffen, die ich mehr geliebt habe als alle anderen in meinem gesamten Leben.
     
     

25
     
    Ich schlief nicht richtig. Dafür gab es mehrere Gründe – ich war unaussprechlich müde, vom Hunger geschwächt, von der Sonne verbrannt, meine Kehle war ausgedörrt, und ich war derart niedergeschlagen, daß mir alles gleichgültig war. Das versetzte mich in einen Zustand der Betäubung, die nur hin und wieder durch Wahnzustände unterbrochen wurde. Im Delirium hob ich einmal den Kopf und glaubte, in der Ferne, dort, wo Himmel und Meer zusammentrafen, verschwommen Land zu sehen. Doch ich wußte, das konnte nicht sein, denn was ich zu sehen glaubte, lag am südlichen Horizont, und in den südlichen Weiten des Westmeeres gibt es kein Land. Es mußte ein aus der Verwirrung geborenes Trugbild sein, und deshalb war ich dankbar, als ich wieder in die gnädige Betäubung zurücksank. Das nächste Unwahrscheinliche war, daß ich spürte, wie Wasser auf mein Gesicht tropfte. Mein apathisches Bewußtsein reagierte nicht erschrocken, sondern fand sich damit ab, daß eine Welle über das Acáli hinweggegangen war und daß ich bald ganz untergehen, ertrinken und tot sein würde. Doch mir tropfte immer noch Wasser auf das Gesicht. Es rann in meine Nasenlöcher, so daß ich unwillkürlich die trockenen, aufgesprungenen und verklebten Lippen öffnete. Meine betäubten Sinne brauchten einen Augenblick, um wahrzunehmen, daß das Wasser frisch und nicht salzig schmeckte. Bei dieser Erkenntnis begann mein Bewußtsein sich durch die Schichten der Betäubung hindurchzukämpfen. Mit einiger Mühe schlug ich die verklebten Augenlider auf. Mit meinen halbblinden und entzündeten Augen nahm ich zwei menschliche Hände wahr, die einen Schwamm auspreßten. Hinter den Händen befand sich das wunderschöne Gesicht einer jungen Frau. In meiner Benommenheit vermutete ich, daß ich in Tonatiucan oder Tlálocan oder in ein anderes Paradies der Götter gelangt war und daß diese Frau als dienstbarer Geist im Auftrag eines Gottes handelte, der mich aus dem Todesschlaf wecken ließ, um mich in seinem himmlischen Reich willkommen zu heißen. Ich war beglückt darüber, gestorben zu sein.
    Tot oder nicht, mein Sehvermögen kehrte allmählich ebenso zurück wie die Fähigkeit, den Kopf etwas zu bewegen, damit ich den ›dienstbaren Geist‹ besser sah. Die Frau kniete neben mir. Sie trug nichts als ihr langes schwarzes Haar und ein Máxtlatl, das Schamtuch eines Mannes. Sie war nicht allein. Andere gute Geister hatten sich eingefunden, um mich zusammen mit ihr zu begrüßen. Ich bemerkte hinter ihr noch weitere Frauen verschiedener Größe und offensichtlich unterschiedlichen Alters. Sie trugen alle die gleiche Kleidung oder vielmehr keine.
    Benommen fragte ich mich: Werden sie mich tatsächlich willkommen

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