Der Sohn des Azteken
sehr wenige haben die richtige Art Herz.« Sie legte den hübschen Kopf schief und sah mich an. »Dein Herz, Tenamáxtli, ist es dazu da, Gefühle zu empfinden, ja? Gefühle der Liebe?«
»Es sieht so aus«, sagte ich und lachte. »Es schlägt schneller und heftiger, wenn ich jemanden liebe.«
Sie nickte. »Wie mein Herz, wenn ich meine kleine Tiripetsi ansehe und meine Liebe für sie spüre. Aber nicht alle Austern haben Herzen, die wie Menschenherzen Gefühle kennen. Die meisten Austern liegen einfach bewegungslos da, warten darauf, daß ihnen die Strömung Nahrung bringt, und wünschen sich nicht mehr als Ruhe. Sie tun nichts, außer zu leben, solange sie können.«
Ich wollte erwidern, daß diese Beschreibung auch auf ihre Schwestern auf den Inseln oder die Mehrheit der Menschen zutraf, die ich kennengelernt hatte, doch sie fuhr fort: »Nur eine Auster von vielen, vielleicht eine von hundertmal hundert, hat ein Herz, das fühlen kann, das fähig ist, etwas mehr sein zu wollen als Schleim in einer Muschelschale. Das fühlende Herz dieser einen Auster unter den vielen wird eine Kinú, ein sichtbares, schönes und kostbares Herz.«
Diesen Unsinn konnte man sicher nur auf den Inseln der Frauen glauben, doch es war ein so reizender Einfall, daß mein Herz keinen Widerspruch zuließ. Wenn ich jetzt zurückdenke, dann habe ich mich wohl in diesem Augenblick in Ixinatsi verliebt.
Auf jeden Fall muß ihr Glaube an die Suche nach Austern, die sich nicht wie Austern verhielten, sie an jenen Tagen getröstet haben, wenn sie zwischen dem ersten und dem letzten Schimmer Tageslicht mehrere hundert Male tauchte und ganze Austernbänke nach oben brachte, ohne eine einzige Perle zu finden. Deshalb verfluchte sie, wie ich es bestimmt getan hätte, nach einem ganzen Tag vergeblicher Arbeit, niemals die Austern oder die Götter, ja sie spuckte nicht einmal wütend ins Meer.
Und es war eine verflucht harte Arbeit. Ich weiß es, denn ich versuchte es eines Tages verstohlen an einer Stelle, wo die Frauen gerade nicht tauchten. Ich blieb gerade lange genug unter Wasser, um eine einzige Auster vom Felsen zu lösen. Länger konnte ich es nicht aushalten. Doch die Frauen beginnen bereits als Kinder zu tauchen. Bis sie erwachsen sind, hat sich ihr Oberkörper so entwickelt, daß sie den Atem erstaunlich lange anhalten und unter Wasser bleiben können. In der Tat haben die Frauen der Inseln bemerkenswerte Oberkörper und Brüste, wie ich sie sonst nirgends gesehen habe. »Sieh sie dir an«, sagte Grille und hielt in jeder Hand eine ihrer herrlichen Brüste. »Ihretwegen sind die Inseln das Reich der Frauen geworden. Verstehst du, wir verehren die Göttin Xarátanga mit den großen Brüsten. Ihr Name bedeutet Neumond. In der Wölbung jedes Neumondes kannst du die Rundung ihrer vollen Brust sehen.« Die Ähnlichkeit war mir noch nie aufgefallen, aber so ist es tatsächlich.
Grille fuhr fort: »Die Göttin Neumond hat vor langer Zeit bestimmt, daß diese Inseln nur von Frauen bewohnt werden dürfen. Alle Männer halten sich an diesen Befehl, denn sie fürchten, Xarátanga könnte die Austern oder zumindest die wertvollen Kinucha wegnehmen, wenn ein Mann versuchen würde, sie zu sammeln. Die Männer wären dazu ohnehin nicht in der Lage. Du hast mir deine eigene Unfähigkeit gestanden. Neumond hat uns so ausgestattet, daß wir besser tauchen können.« Sie ließ ihre Brüste wieder los. »Sie unterstützen unsere Lunge, damit sie in der Lage ist, sehr viel mehr Luft aufzunehmen, als es die Lunge eines Mannes kann.« Ich konnte mir keine Verbindung zwischen milchspendenden Brüsten und Atmungsorganen vorstellen, doch ich war kein Ticitl, und deshalb ließ ich die Sache auf sich beruhen. Welche zusätzliche Aufgabe sie auch erfüllten oder nicht erfüllten, ihre prachtvolle Form und beständige Festigkeit trugen zweifellos viel zum hübschen Aussehen der Frauen bei.
Es gibt noch etwas anderes, das die Inselbewohnerinnen von den Frauen des Festlandes unterscheidet und sie auffallend reizvoll macht. Doch um diesen Punkt zu erläutern, muß ich etwas abschweifen.
Die Frauen sind nicht die einzigen Bewohner dieser Inseln. Mehrere Arten Meeresschildkröten kriechen schwerfällig vom Strand ins Wasser und wieder zurück. Es gibt überall Krabben und natürlich eine Vielzahl Vögel, die heiser krächzen und wahllos ihren Kot fallen lassen. Das bemerkenswerteste Lebewesen ist ein Tier, das die Frauen Pukiitsi nennen. Es ist die im Meer lebende
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