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Der Sohn des Azteken

Der Sohn des Azteken

Titel: Der Sohn des Azteken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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dorthin? Vielleicht hielten sie Sklaven auf diesen Inseln, die das ganze Jahr über Austernherzen sammelten und horteten, bis ihre Herren zur festgesetzten Zeit kamen und Waren mitbrachten, die sie gegen die Perlen eintauschten.
    Daß die Fischer das Geheimnis nur ihren Söhnen und nicht ihren Töchtern verrieten, gab den Geschichten eine andere, ich möchte sagen, eine besondere Note. Man erzählte, daß es sich bei den angeblichen Sklaven auf den vermuteten Inseln um Frauen handelte. Daher durften die Frauen von Yakóreke es niemals erfahren, damit sie nicht aus Eifersucht die Fahrt ihrer Männer zu den Austernherzen verhinderten.
    So bildete sich allmählich die Legende von den Inseln der Frauen. Mein ganzes junges Leben lang hatte ich diese Legende in unterschiedlichsten Fassungen gehört.
    Doch wie jeder andere vernünftige Mensch hatte ich sie als Lügengeschichte oder als Märchen abgetan. Unter anderem war es dumm zu glauben, eine in Abgeschiedenheit lebende Frauenbevölkerung hätte sich über so viele Generationen hinweg halten können. Doch jetzt hatte ich rein zufällig herausgefunden, daß es diese Inseln tatsächlich gab und gibt. Würde es sie nicht geben, wäre ich nicht mehr am Leben.
    Es sind vier in einer Reihe liegende Inseln. Doch nur auf den beiden mittleren, den größten, gibt es ausreichend Süßwasser, um eine Besiedlung zu erlauben. Diese Inseln sind ausschließlich von Frauen bevölkert. Ich zählte damals einhundertzwölf Bewohnerinnen, bei denen es sich um Säuglinge, kleine Kinder, junge Mädchen, reife und alte Frauen handelte. Die älteste Frau wurde Kuku oder Großmutter genannt. Alle gehorchten ihr, als sei sie die Verehrte Sprecherin der Gemeinschaft. Ich betrachtete mir alle Kinder genau – sie trugen nicht einmal ein Schamtuch –, und selbst die jüngsten, die Säuglinge, waren weiblichen Geschlechts.
    Nachdem ich die Frauen davon überzeugt hatte, daß ich unfreiwillig zu ihren Inseln gekommen war, ohne etwas von ihrem Vorhandensein geahnt, sogar ohne daran geglaubt zu haben, erlaubte mir die Kukú, eine Weile zu bleiben, bis ich wieder zu Kräften gekommen wäre und mir ein Paddel geschnitzt hätte, denn beides würde ich auf meinem Rückweg zum Festland brauchen. Die junge Frau, die mir mit einem Schwamm voll Wasser Erste Hilfe geleistet hatte, erhielt den Auftrag, für meine Ernährung zu sorgen und darauf zu achten, daß ich mich den Sitten entsprechend benahm. Sie ließ mich in den ersten Tagen kaum aus den Augen.
    Die junge Frau hieß Ixinatsi; das ist das Pore-Wort für ein winziges zirpendes Insekt, die Grille. Der Name paßte zu ihr, denn sie war so lebhaft, so munter und gutmütig wie eine kleine Grille. Auf den ersten Blick wirkte Ixinatsi wie eine der üblichen Purémpe-Frauen, wenn auch von ungewöhnlich strahlendem Aussehen und munterem Wesen. Jeder, der sie sah, konnte ihre blitzenden Augen, das glänzende Haar, das bezaubernde Gesicht, die schönen, festen Rundungen der Brüste, die wohlgeformten Beine und Arme und die zierlichen Hände bewundern. Doch nur ich und die Götter, die sie geschaffen hatten, wußten, daß sich Grille in Wahrheit sehr von allen anderen Frauen unterschied. Aber ich eile meiner Geschichte voraus.
    Wie die alte Kukú befohlen hatte, bereitete Grille für mich alle möglichen Arten Fisch zu und garnierte die Gerichte mit einer gelben Blume, die Tiripetsi genannt wurde. Diese Blume, so sagte sie, besitze Heilkräfte. Zwischen den Mahlzeiten drängte sie mir rohe Austern, Muscheln und Kammuscheln auf – ganz ähnlich, wie einige unserer Völker vom Festland ihre Techichi-Hunde mästen, bevor sie geschlachtet und gegessen werden. Als mir dieser Vergleich aufging, beschlich mich ein gewisses Unbehagen. Ich fragte mich, ob die Frauen ohne Männer seien, weil sie die Männer aßen. Ich erkundigte mich schließlich bei Ixinatsi, und sie lachte schallend. »Wir haben keine Männer, weder um sie zu essen, noch für etwas anderes«, sagte sie in dem Pore-Dialekt, den ich schnell zu lernen versuchte. »Ich gebe dir soviel zu essen, Tenamáxtli, um dich gesund zu machen. Je schneller du zu Kräften kommst, desto früher kannst du abfahren.« Doch bevor ich ging, wollte ich mehr über die sagenumwobenen Inseln erfahren, außer der offensichtlichen Tatsache, daß es sich dabei nicht um eine Sage handelte, die jeder Grundlage entbehrte. Ich konnte meine eigenen Vermutungen darüber anstellen, daß die Vorfahren der Frauen Purémpe gewesen waren, die

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