Der Sohn des Azteken
Náhuatl, und es lohnte sich nicht, ihren Gesprächen zuzuhören. Doch es gab auch Unterhaltungen in unverständlichen Sprachen. Diese Männer hätten die Weisheit der Welt preisgeben oder die Geheimnisse der Götter ausplaudern können, ohne daß ich etwas verstanden hätte. Damals wußte ich nicht einmal, welchen Völkern sie angehörten. Doch nach ein paar weiteren Nächten in der Herberge erfuhr ich Genaueres. Mit Ausnahme der armen Bewohner der Stadt Mexico kamen die Fremden alle aus dem Norden, oft sogar von sehr weit im Norden.
Ich habe bereits gesagt, daß die Staaten und Völker südlich und im Osten der Stadt Mexico schon sehr früh von den Spaniern erobert worden waren und sich im gesellschaftlichen und geschäftlichen Umgang inzwischen gut an die Anwesenheit und die Herrschaft der Eroberer angepaßt hatten. Deshalb waren Besucher aus dem Süden oder Osten entweder Gesandte, Boten oder Pochtéca, die ihre Waren in die Stadt brachten, um sie zu veräußern, zu tauschen oder um Güter einzukaufen, die aus Altspanien herübergebracht worden waren. Diese Besucher wurden im Haus der Pochtéca untergebracht oder sogar als Gäste in den Häusern und Palästen hochgestellter Spanier aufgenommen.
In der kostenlosen Herberge kamen alle aus den noch nicht eroberten Gebieten der EINEN WELT unter. Sie besuchten die Stadt Mexico entweder wie Onkel Mixtzin als Kundschafter, um sich ein Bild von den Weißen zu machen und ihre eigenen Schlüsse über die mögliche Zukunft ihres Volkes zu ziehen. Oder sie erhofften sich wie Netzlin und Citláli, besagte Kundschafter, am Überfluß und Wohlstand der Stadt des weißen Mannes teilhaben zu können. Manche, so stellte ich mir vor, waren vielleicht hier, um wie ich als Wurm in der Coyacapúli-Frucht zu wirken. Ich jedenfalls war entschlossen, mich in Neuspanien hineinzugraben, um es von innen auszuhöhlen. Wenn es andere mit ähnlichen Absichten gab, mußte ich sie finden und mich ihnen anschließen.
Die Mönche weckten uns bei Sonnenaufgang, und wir gingen wieder nach unten. Onkel Mixtzin und ich waren froh, als wir feststellten, daß meine Mutter die Nacht ohne Belästigungen überstanden hatte, und wir freuten uns alle drei, daß die Mönche zum Frühstück Schüsseln mit Atóli-Brei austeilten. Es gab sogar für jeden einen Becher Schokolade. Offenbar war meine Mutter wie Onkel Mixtzin einen Großteil der Nacht wach geblieben und hatte sich mit anderen Gästen unterhalten, denn sie redete heute mehr als auf der ganzen bisherigen Reise.
»Hier sind Frauen, die in den besten spanischen Familien und in einigen der besten Häuser gedient haben. Sie berichten von wunderbaren und erstaunlichen Dingen. Es gibt zum Beispiel neue Stoffe, die man in der EINEN WELT nicht kennt. Die Spanier haben ein Material, das man Wolle nennt. Es ist das geschorene, gekräuselte Fell von Tieren, die Ovejas heißen und überall in Neuspanien in großen Herden gezüchtet werden. Das Fell wird nicht zu Filz verarbeitet, sondern zu Garn gesponnen, ähnlich wie unsere Baumwolle. Das Garn wird dann zu Stoff gewebt. Sie behaupten, Wolle kann so warm wie ein Pelz sein, und sie läßt sich in allen Farben färben.« Ich freute mich für meine Mutter. Die Neuigkeiten ließen die Erinnerung an die Ereignisse des Vortags verblassen und in den Hintergrund treten. Doch meinen Onkel schien ihre Redseligkeit nicht gerade zu begeistern.
Ich blickte mich so unauffällig wie möglich im Eßsaal um und überlegte, wer von diesen Leuten ein möglicher Verbündeter beim Spionieren und bei meiner künftigen Verschwörung sein würde. Dort drüben hockte der magere Pochotl und aß beinahe mißmutig seinen Atóli-Brei. Er mochte nützlich sein, denn er war ein Bewohner dieser Stadt und kannte sie gut. Allerdings konnte ich ihn mir nicht als Krieger vorstellen, wenn ich bei meinem Feldzug gegen die Spanier einmal dahin kommen würde, daß ich Kämpfer brauchte. Wer von den anderen im Raum kam noch in Frage? Es gab Kinder, Erwachsene, Alte, Männer und Frauen. Vielleicht würde ich eine oder mehrere Frauen anwerben, denn es gab Orte, an die eine Frau, aber kein Mann gehen konnte, ohne Verdacht zu erregen.
»Es gibt einen Stoff, der noch wunderbarer ist«, fuhr meine Mutter fort. »Er wird Seide genannt, und sie behaupten, er ist so leicht wie Spinnweben, und er hat einen sanften Schimmer. Bereits ihn zu berühren ist ein Genuß, und dieser Stoff ist so haltbar wie Leder. Er wird nicht hier hergestellt, sondern kommt aus
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