Der Sohn des Azteken
Altspanien. Es klingt wie ein Märchen, aber die Frauen behaupten, der Faden wird von Raupen gesponnen. Sie müssen damit besondere Spinnen meinen.«
»Frauen lassen sich doch immer von Plunder und Nebensächlichkeiten verführen«, brummte Mixtzin. »Wenn es in der EINEN WELT nur Frauen gäbe, hätten die Weißen das ganze Land für wertlosen Flitter und Tand haben können, und niemand hätte eine Waffe gegen sie erhoben.«
»Mixtzin, du übertreibst!« widersprach sie. »Ich hasse die Spanier genauso wie du. Ich habe sogar mehr Grund dazu, denn durch sie bin ich Witwe geworden. Aber da sie diese erstaunlichen Dinge mitgebracht haben … und weil wir hier sind, wo man all das Neue sehen kann …« Mixtzin bekam erwartungsgemäß einen Wutanfall. »Im Namen der tiefsten Dunkelheit von Míctlan, Cuicáni, ich frage dich«, schimpfte er, »würdest du mit diesen betrügerischen Eindringlingen Handel treiben?«
»Selbstverständlich nicht!« In ihrer praktischen weiblichen Art fügte sie hinzu: »Wir haben schließlich keine Münzen. Ich möchte keinen der Stoffe kaufen, sondern sie nur einmal sehen und anfassen. Ich weiß, du hast es eilig, die fremde Stadt zu verlassen. Aber es ist kein großer Umweg, wenn wir über den Markt gehen, damit ich mich dort ein wenig umsehen kann.«
Mein Onkel brummte, knurrte und sträubte sich, aber natürlich verweigerte er ihr schließlich diese kleine Freude nicht, zu der sich ihr nie wieder Gelegenheit bieten würde.
»Wenn du also unbedingt unsere Zeit verschwenden mußt, dann wollen wir uns wenigstens sofort auf den Weg machen. Leb wohl, Tenamáxtli.« Er schlug mir auf die Schulter. »Ich wünsche dir Erfolg bei deinem tollkühnen Abenteuer. Aber noch mehr wünsche ich mir, daß du sicher nach Hause zurückkehrst, und zwar bald.« Tenes Abschied dauerte wesentlich länger und war sehr viel gefühlvoller – mit Umarmungen, Küssen, Tränen und Ermahnungen, gesund zu bleiben, richtig zu essen und im Umgang mit den unberechenbaren Weißen vorsichtig zu sein, mich vor allem unter keinen Umständen mit einer weißen Frau einzulassen. Sie gingen in Richtung der nördlichen Viertel davon, wo sich der größte und geschäftigste Marktplatz der Stadt befand. Ich machte mich auf den Weg zu jenem anderen Platz, auf dem am Tag zuvor mein Vater bei lebendigem Leib verbrannt worden war. Ich ging allein, aber ich kam nicht mit leeren Händen. Beim Verlassen der Mesón de San José entdeckte ich vor dem Tor einen großen leeren Tonkrug, den niemand benutzte oder bewachte. Ich hob ihn mir auf die Schulter, als trüge ich Wasser oder Atóli für die Arbeiter auf einer Baustelle. Ich tat, als sei der Krug schwer, und ging langsam. Denn einerseits dachte ich, daß ein schlecht bezahlter Arbeiter das tun würde, hauptsächlich wollte ich jedoch jeden Menschen, jeden Platz und alles, was ich auf meinem Weg sah, möglichst unauffällig, aber genau betrachten. Am Vortag hatte ich die Stadt bestaunt und sie sozusagen mit einem Blick in mich aufgesaugt – die breiten langen Prachtstraßen mit den riesigen Gebäuden in der fremden Bauweise, die Fassaden aus Stein oder Stuck, die seltsame Friese schmückten, deren plastische Formen verschlungen und kompliziert, aber so unsinnig waren wie die Stickereien, mit denen manche unserer Leute ihre Umhänge säumen. Und ich war durch die sehr viel engeren Seitenstraßen gelaufen, wo die Gebäude kleiner und weniger phantasievoll verziert waren und sich dicht aneinanderdrängten. An diesem Tag konzentrierte ich mich auf Einzelheiten. Deshalb wurde mir bewußt, daß die Mehrzahl der prächtigen Gebäude entlang den breiten Straßen und an den offenen Plätzen den Mächtigen der Regierung von Neuspanien und ihren zahlreichen Untergebenen, Beratern, Kanzlisten, Schreibern und so weiter in erster Linie als Arbeitsräume dienten. Mir fiel auf, daß von den vielen spanisch gekleideten Männern, die in die Gebäude hineingingen oder aus ihnen herauskamen – sie trugen Bücher oder Botentaschen, andere nur den Ausdruck stolzer Überheblichkeit auf den Gesichtern –, eine Reihe die gleiche dunkle Haut und das gleiche bartlose Gesicht hatten wie ich. Andere auffallend prunkvolle Gebäude dienten eindeutig den Würdenträgern der Religion der Weißen sowie ihren zahlreichen Untergebenen und Günstlingen. Auch unter diesen Männern in geistlichen Gewändern und mit den zur Schau getragenen selbstzufriedenen Mienen befanden sich nicht wenige mit kupferfarbenen, bartlosen
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