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Der Sohn des Azteken

Der Sohn des Azteken

Titel: Der Sohn des Azteken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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war, wahrscheinlich keine große Überschwemmungsgefahr mehr bestand.
    Da die Insel jedoch nur eine Erhebung auf dem unsicheren Grund des Sees war, wurde sie oft auch von den Tlalonini heimgesucht – den Terremoto, wie die Spanier sie nannten. Dabei hatten manchmal nur einzelne Gebäude von Tenochtitlan Schaden genommen, sich geneigt oder abgesenkt. Bei anderen Tlalonini hatte die Erde so heftig gebebt und sich aufgebäumt, daß Gebäude plötzlich umstürzten und die Menschen auf den Straßen unter sich begruben. Deshalb besaßen die großen Gebäude beim ersten Besuch meines Onkels Mixtzin in Tenochtitlan feste und breite Fundamente. Die kleineren standen auf Pfählen, die schwankten oder etwas nachgaben, um ein Absinken oder Beben der Insel auszugleichen. Später hörte ich, daß den Spaniern die Gefahren der Insel durch eigene Erfahrungen allmählich bewußt wurden. Die hohe Kathedrale San Francisco, das größte Gebäude, das man bislang zu bauen sich vorgenommen hatte und das noch nicht einmal fertiggestellt war, neigte sich bereits erkennbar zur Seite. Die Fundamente gaben nach. Die Steinmauern hatten an manchen Stellen Risse, und die Platten des Marmorfußbodens lösten sich. »Das ist das Werk der bösen heidnischen Dämonen«, erklärten die Priester. »Wir hätten das Gotteshaus niemals an derselben Stelle errichten dürfen, wo vorher der Tempel dieser rothäutigen Heiden stand. Es war ein Fehler, die alten Steine zu benutzen.«
    Die Baumeister der Kathedrale trieben in aller Eile Keile unter das Gebäude. Sie ließen Stützmauern errichten und versuchten alles nur Erdenkliche, um den Bau zumindest bis zu seiner Fertigstellung vor dem Einsturz zu bewahren. Gleichzeitig arbeiteten sie bereits an Plänen für eine andere Kathedrale. Sie sollte in einiger Entfernung errichtet werden und neuartige, tief reichende Fundamente haben, die, wie man hoffte, dem Gebäude Halt geben würden.
    Doch an jenem Tag wußte ich noch nichts von alldem. Ich trug immer noch den leeren Krug auf der Schulter, als ich den riesigen Platz vor der Kathedrale überquerte. Ich stellte meine Last neben dem großen Portal ab, damit ich nicht wie ein Arbeiter, sondern eher wie ein achtbarer Besucher wirken würde. Ich wartete, während mehrere weiße Männer im geistlichen Gewand in die Kathedrale gingen oder herauskamen, grüßte sie und fragte, ob ich ihren Tempel betreten dürfe. Ich wußte nicht, welche Regeln beim Betreten der Kirche respektiert werden mußten, und war mir so nicht sicher, ob ich den Boden küssen sollte, bevor ich durch das Portal trat oder danach. Es stellte sich schnell heraus, daß nicht einer der weißen Priester, Mönche oder was immer sie waren – und manche lebten bereits seit zehn Jahren in Neuspanien – auch nur ein Wort Náhuatl verstand oder sprach. Menschen meines Volkes, die sich zu der neuen Religion bekannt hatten, kamen nicht vorbei. Deshalb versuchte ich immer wieder, so gut ich konnte, die Worte ›Notarius‹, ›Alonso‹ und ›Molina‹ auszusprechen. Schließlich schnippte einer der Männer mit den Fingern, weil er begriff, was ich wollte, und führte mich durch das Portal. Keiner von uns beiden küßte den Boden, obwohl der Mann eine Art respektvolle Kniebeuge machte. Wir gingen durch das höhlenartige Innere, durch Gänge und Flure und stiegen etliche Stufen nach oben. In der Kathedrale nahmen die Kirchenmänner ihre Kopfbedeckungen ab, die von klein und rund bis zu groß und ausladend reichten. Erstaunt bemerkte ich, daß alle am Hinterkopf eine kahl geschorene runde Stelle hatten. Der Mann blieb schließlich an einer offenen Tür stehen und gab mir durch eine Geste zu verstehen, ich möge eintreten. In dem kleinen Raum, den ich betrat, saß der Notarius Alonso an einem Tisch. Er rauchte Picietl, hatte das kleingeschnittene Kraut aber nicht wie unsere Leute in Schilf oder Papier zu einem Röhrchen gerollt. Zwischen seinen Lippen steckte etwas Langes, Starres aus weißem Ton, dessen vorderes Ende nach oben gebogen und mit dem langsam brennenden Picietl gestopft war. Er sog den Rauch durch das hintere, dünnere Ende ein.
    Vor dem Notarius lag eines unserer Bücher aus gefaltetem Rindenbastpapier. Er schrieb die vielen farbigen Wortbilder ab. Ich sollte besser sagen, er übersetzte sie, denn was er auf ein anderes Papier schrieb, waren keine Wortbilder, sondern andere, mir damals fremde Zeichen. Er benutzte dazu einen angespitzten Entenfederkiel, den er in einen kleinen Topf mit einer

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