Der Sohn des Azteken
schwarzen Flüssigkeit tauchte. Dann kritzelte er gewundene, sich schlangelnde Linien auf sein Papier. Heute weiß ich natürlich, daß es sich um die spanische Art des Schreibens handelte. Er beendete eine Zeile, hob den Kopf und schien sich zu freuen. Aber er wußte nicht gleich meinen Namen.
»Ayyo, schön, dich zu sehen, äh … Cuati …«
»Tenamáxtli, Cuati Alonso.«
»Natürlich, Cuati Tenamáxtli.«
»Ihr habt gestern gesagt, ich könnte kommen, um mit Euch zu reden.«
»Selbstverständlich, aber ich habe dich nicht schon heute erwartet. Was kann ich für dich tun, Bruder?«
»Kann ich bei Euch spanisch lernen, Bruder Notarius.« Er sah mich lange an, bevor er fragte: »Wieso?«
»Ihr sprecht als einziger Spanier, den ich getroffen habe, meine Sprache. Ihr habt gesagt, das macht Euch zu einem nützlichen Vermittler zwischen Eurem Volk und meinem. Vielleicht könnte ich ebenso nützlich sein. Wenn kein anderer Eurer Landsleute unser Náhuatl lernen kann …«
»Ich bin nicht der einzige«, erwiderte er. »Aber wenn die anderen es ebensogut beherrschen wie ich, teilt man ihnen Aufgaben in anderen Stadtteilen oder in den entfernteren Regionen von Neuspanien zu.«
»Dann werdet Ihr mich also unterrichten?« fragte ich drängend, und als er schwieg, fügte ich schnell hinzu: »Wenn Ihr nicht mein Lehrer sein könnt, dann vielleicht einer der anderen, die …«
»Ich kann es, und ich werde dir Unterricht geben«, sagte er. »Ich habe jedoch nicht die Zeit, dir allein Stunden zu erteilen. Aber ich unterrichte jeden Tag ein Klasse am Colegio de San José. Das ist ein Kollegium, das ausschließlich für die Bildung von euch Indios eingerichtet wurde. Jeder Priester, der dort unterrichtet, spricht zumindest etwas Náhuatl.«
»Das trifft sich gut!« rief ich erfreut. »Zufällig bin ich in der Mesón der Mönche neben dem Colegio untergekommen.«
»Du hast wirklich großes Glück, Tenamáxtli. Das neue Schuljahr beginnt gerade. Das wird dir das Lernen erleichtern. Wenn du willst, sei morgen zur Prim am Tor des Kollegiums.«
»Prim?« fragte ich verständnislos.
»Ich habe vergessen, daß du solche Worte nicht verstehst, aber das macht nichts. Wenn du gefrühstückt hast, gehst du zum Tor der Schule und wartest dort auf mich. Ich werde dafür sorgen, daß du ordnungsgemäß zugelassen und aufgenommen wirst. Dann wird man dir sagen, wann und wo der Unterricht stattfindet.«
»Ich kann Euch nicht genug danken, Cuati Alonso!« Er griff wieder nach seiner Feder und dachte offenbar, ich würde gehen. Als ich zögernd vor seinem Tisch stehenblieb, fragte er: »Gibt es noch etwas?«
»Ich habe heute etwas gesehen, Bruder. Könnt Ihr mir sagen, was es bedeutet?«
»Was hast du gesehen?«
»Darf ich einen Augenblick die Feder haben?« Er gab sie mir, und ich schrieb mit der schwarzen Flüssigkeit auf meinen Handrücken, um nichts von seinem Papier zu verschwenden, das Zeichen ›G‹. »Was heißt das, Bruder?«
»Hay.«
»Hay?« fragte ich.
»So heißt der Buchstabe. Hay. Es ist eine Letra inicial. In deiner Sprache gibt es dafür kein Wort. Du wirst diese Dinge im Unterricht am Kollegium lernen. ›Hay‹ ist ein Partikel der spanischen Sprache, so wie ahchay, ee, hota … und so weiter. Wo hast du das gesehen?«
»Ein Mann hatte eine Narbe in dieser Form auf seiner Wange. Ich konnte nicht erkennen, ob sie eingeschnitten oder eingebrannt worden war.«
»Ach ja … das Brandzeichen.« Er runzelte die Stirn und wandte den Blick ab. Offenbar besaß ich die Fähigkeit, Cuati Alonso Unbehagen zu bereiten. »In diesem Fall steht die Letra inicial für Guerra, Krieg. Es bedeutet, daß der Mann ein Kriegsgefangener war und deshalb jetzt ein Sklave ist.«
»Ich habe mehrere Männer mit diesem Zeichen gesehen. Andere hatten andere Narben im Gesicht.« Ich schrieb auf meinen Handrücken die Zeichen ›HC‹ und ›JZ‹ und vielleicht auch noch andere, an die ich mich jetzt nicht mehr erinnere.
»Ebenfalls Letras iniciales«, antwortete er. »Ahchay thay, das ist der Marqués Hernán Cortés. Und hota thayda, das ist Seine Exzellenz, der Bischof Juan de Zumárraga.«
»Das sind Namen? Man hat den Männern Namen eingebrannt?«
»Die Namen ihrer Besitzer. Wenn ein Sklave nicht während der Eroberung vor zehn Jahren gefangengenommen wurde, sondern einfach gekauft und bezahlt wird, darf der Besitzer seinen lebenslangen Anspruch auf ihn wie bei einem Pferd durch das Brandzeichen kenntlich machen, verstehst
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