Der Sohn des Azteken
Spinnen, Weben, Schneidern, Sticken, Spitzen klöppeln, Almosen betteln …«
»Betteln?!« rief ich erstaunt.
»Für den Fall, daß du Mönch eines Bettelordens wirst.« Ich erwiderte trocken: »Ich habe nicht den Ehrgeiz, Mönch zu werden, aber ich glaube, einen Bettler könnte man mich bereits nennen, denn ich lebe in der Mesón.« Er hob den Blick von der Liste. »Sag mir, bist du in der Lage, die Bücher mit Wortbildern der Azteca und der Maya zu lesen, Juan Británico?«
»Ich hatte gute Lehrer«, erwiderte ich. »Es wäre unbescheiden zu behaupten, daß ich ein guter Schüler war.«
»Vielleicht könntest du mir helfen. Ich versuche, die wenigen einheimischen Bücher, die in diesem Land noch vorhanden sind, ins Spanische zu übersetzen. Beinahe alle sind der Säuberung zum Opfer gefallen. Man hat sie verbrannt, weil sie frevelhaft und teuflisch sind und dem wahren Glauben schaden. Mit den Wortbildern der Náhuatl-Schreiber komme ich ganz gut zurecht, aber manche Bücher stammen von Skribenten anderer Sprachen. Glaubst du, du könntest mir beim Entziffern dieser Bücher behilflich sein?«
»Ich kann es versuchen.«
»Gut, dann werde ich Seine Exzellenz um Erlaubnis bitten, dir einen Lohn zu zahlen. Es wird nicht viel sein, dir aber die Schmach ersparen, wie eine Drohne von der Wohltätigkeit anderer zu leben.« Nach einem weiteren kurzen Gespräch mit dem dicken Priester Ignacio sagte er zu mir: »Ich habe dich vorerst nur für zwei Fächer eingeschrieben. Die eine Klasse unterrichte ich: ›Spanisch für Anfänger‹. Die zweite ist christliche Glaubenslehre‹ bei Vater Diego. Alle anderen Fächer können warten. Du wirst ab jetzt deine freie Zeit in der Kathedrale verbringen und mir bei der Arbeit an den einheimischen Büchern helfen. Wir nennen sie übrigens Códices.«
»Das freut mich«, sagte ich. »Und ich bin Euch sehr zu Dank verpflichtet, Cuati Alonso.«
»Gehen wir hinauf. Deine Klassenkameraden müßten bereits in den Bänken sitzen und auf mich warten.« Damit hatte er recht, und ich stellte verlegen fest, daß ich der einzige Erwachsene unter mehr als zwanzig Jungen und vier oder fünf Mädchen war. Ich befand mich in einer ähnlichen Lage wie mein Vetter Yeyac, als er vor Jahren seine Ausbildung an den niederen Schulen in Aztlan zusammen mit kleinen Kindern beginnen mußte. Ich glaube nicht, daß ein einziger Junge im Raum alt genug war, das Máxtlatl unter dem Mantel zu tragen. Die wenigen Mädchen wirkten noch jünger. Die unterschiedliche Hautfarbe der Kinder fiel mir sofort auf. Natürlich hatte niemand von ihnen die weiße Haut der Spanier. Die meisten waren kupferbraun wie ich, aber nicht wenige wirkten sehr viel blasser und zwei oder drei zu meinem Erstaunen wesentlich dunkler. Natürlich mußten die hellhäutigen Kinder von Spaniern sein, die ›Indiofrauen‹ geschwängert hatten. Aber woher kamen die Kinder mit dunkler Hautfarbe? Offensichtlich stammte ein Elternteil aus der EINEN WELT … doch der andere?
Ich stellte nicht sofort Fragen. Ich setzte mich gehorsam in eine der Bänke und wartete auf den Beginn der Stunde, während die Kinder die Hälse verdrehten und den Erwachsenen in ihrer Mitte neugierig anstarrten. Alonso stand an der Stirnseite des Raums hinter einem Tisch, und ich muß gestehen, die geschickte Art seines Unterrichts fand schnell meine Bewunderung und Anerkennung.
»Wir beginnen damit«, sagte er auf náhuatl, »daß wir die offenen Laute der spanischen Sprache üben: ah, ay, ee, oh, oo. Es sind die gleichen Laute wie in den folgenden Worten eurer Sprache. Hört zu. Acá li … Te ne … ix tlil … Po chotl … Cal pú li.«
Selbst die Jüngsten der Klasse verstanden die Worte, denn sie bedeuteten: Kanu, Mutter, schwarz, Kapok-Baum und Familie.
Er fuhr fort. »Ihr werdet diese Laute in den folgenden spanischen Wörtern wieder hören. Acáli … Banca. Tene … Dente. ixtlil … Piso. Pochotl … Polvo. Calpúli … Muro.«
Er ließ uns diese zehn Worte mehrmals wiederholen und betonte dabei die uns vertrauten ›offenen Laute‹. Um uns nicht zu verwirren, erklärte er erst danach, was die spanischen Worte bedeuteten.
»Banca«, sagte er, streckte die Hand aus und schlug leicht auf eine der Bänke in der ersten Reihe. »Dente« – er deutete auf einen seiner Zähne. »Piso« – er wies auf den Boden und stampfte einmal mit dem Fuß auf. »Polvo« – er fuhr mit der Hand über den Tisch und wirbelte eine Staubwolke auf. »Muro« – er wies auf die
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