Der Sohn des Azteken
Wand. Wir mußten die spanischen Wörter wiederholen und dabei zusammen mit ihm auf die Dinge deuten, die sie bezeichneten.
»Banca – Bank, Dente – Zahn, Piso – Fußboden, Polvo – Staub und Muro – Wand.«
Dann fuhr er in unserer Sprache fort: »Sehr gut. Wer von euch intelligenten Schülern kann mir jetzt fünf andere Náhuatl-Worte nennen mit den Lauten ah, ay, ee, oh, oo?«
Als sich niemand – auch ich nicht – freiwillig meldete, bedeutete Alonso mit einer Geste einem kleinen Mädchen in einer der vorderen Bänke aufzustehen. Sie trat vor und begann schüchtern: »Acáli … Tene …«
»Nein, nein, nein«, sagte unser Lehrer und bewegte den erhobenen Finger hin und her. »Das sind die Worte, die ich euch gegeben habe. Es gibt viele, viele andere. Wer kann uns fünf andere nennen?«
Die Schüler saßen alle stumm auf ihren Plätzen und warfen sich von der Seite scheue Blicke zu. Alonso deutete auf mich.
»Juan Británico, du bist älter, und ich weiß, du hast eine Menge Wörter in deinem Kopf. Nenne uns fünf, in denen die verschiedenen offenen Laute, die ich genannt habe, enthalten sind.«
Ich hatte bereits darüber nachgedacht, und mir waren, ich weiß nicht warum, fünf bestimmte Worte eingefallen. Deshalb grinste ich wie ein Schuljunge und begann: » Maá titl … Ahuil né ma … Ti pí li … Chi tó li … Te pú li.« Ein paar der kleineren Kinder blickten verständnislos, doch die meisten älteren wußten natürlich, was die Worte bedeuteten. Sie wurden rot oder kicherten hinter vorgehaltenen Händen, denn solche Worte äußerte man nicht in Gegenwart eines Lehrers, besonders nicht in Gegenwart eines christlichen Lehrers an einem kirchlichen Kollegium. Auch Alonso legte bestimmt keinen Wert darauf, sie zu hören.
Der Notarius sah mich finster an. »Das findest du wohl sehr komisch, du unverschämter Babalicón. Stell dich mit dem Gesicht zur Wand in die Ecke! Dort bleibst du stehen und schämst dich, bis die Stunde zu Ende ist.«
Ich wußte nicht, was ein Babalicón war, konnte es mir aber vorstellen. Also stand ich in der Ecke, hatte das Gefühl, zu Recht bestraft worden zu sein, und bedauerte, so etwas zu einem Mann gesagt zu haben, der bisher nur freundlich zu mir gewesen war.
Der Rest der Stunde verging an diesem Tag mit dem Aufsagen harmloser Wörter mit offenen Lauten. Ich beherrschte die Laute bereits und lernte die spanischen Worte beim Zuhören mühelos auswendig. Deshalb entging mir nicht viel, obwohl ich geächtet und ignoriert wurde.
Nach dem Unterricht sagte Alonso zu mir: »Was du getan hast, war ungezogen, unanständig und kindisch, Juan. Ich mußte streng sein, um die anderen zu warnen.« Dann lächelte er. »Aber ich will gestehen, dein schlechter Scherz hat den Unterricht aufgelockert. Die Kinder waren am ersten Schultag verständlicherweise ängstlich und unruhig. Aber dann wurde es für alle leichter und ungezwungener. Deshalb verzeihe ich dir diesmal deinen Übermut.«
Ich versprach ihm, so etwas werde sich nicht wiederholen, und das war ehrlich gemeint. Alonso führte mich durch den Flur zu jenem Raum, wo mein nächster Unterricht stattfinden würde. Hier sollte ich meine erste christliche Unterweisung erhalten. Ich stellte fest, daß ich diesmal nicht der Älteste war. Ein paar meiner Mitschüler waren Jugendliche, andere sogar bereits Erwachsene. Es gab keine Kinder, nur wenige Mädchen, und es fehlte die Vielfalt der Hautfarben. In dieser Klasse wurden keine Anfänger unterrichtet. Der Unterricht fand seit längerer Zeit, vielleicht sogar schon seit Monaten statt. Deshalb mußte ich versuchen, Dinge zu verstehen, die mein Begriffsvermögen zunächst überstiegen. An meinem ersten Tag erklärte der Priester das christliche Konzept der ›Dreifaltigkeit‹. Pater Diego hatte eine Glatze, war also nicht nur an einer Stelle kahl geschoren.
Er hörte es gerne, wenn er Tete genannt wurde, in unserem Volk die liebevolle Verkleinerungsform von ›Vater‹. Er sprach Náhuatl beinahe so fließend wie der Notarius Alonso. Deshalb verstand ich alles, was er sagte, allerdings nicht, was die Worte und Begriffe bedeuteten. Zum Beispiel ist Yeyintetl in unserer Sprache das Wort für Trinität; es bezeichnet eine Gruppe von drei Personen oder Dingen – etwa die Spitzen eines Dreiecks oder das dreifach gelappte Blatt bestimmter Pflanzen. Doch Tete Diego forderte uns zur Verehrung einer Vierergruppe auf.
Ich habe bis heute keinen christlichen Spanier getroffen, der nicht
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