Der Sohn des Kreuzfahrers
sich Murdo an das Schwanken des Schiffes, und er genoß es, unter dem klaren Nachthimmel zu schlafen und den unendlich über ihn wandernden Sternen. Wenn der Wind gut und die See ruhig war, ließ Jon das Schiff bisweilen auch nachts durch die Wellen gleiten, wobei er sich an den Sternen orientierte. Die Nordmänner wechselten sich am Steuer ab, und nach einer gewissen Zeit wurde Mur-do erlaubt, sich auch als Steuermann zu versuchen. Obwohl das Schiff weit größer war als alles, worauf er bisher gesegelt war, entdeckte Murdo alsbald, daß hier die gleichen Fähigkeiten gefragt waren wie auf kleineren Booten, und er rühmte sich, das Segel stets im Wind und den Bug in den Wellen halten zu können.
Um etwas Abwechslung in die kargen Mahlzeiten aus Dörrfleisch und Haferbrei zu bringen, widmeten sich Murdo und die Mönche dem Fischfang. Wenn die Sonne als glühend roter Ball hinter dem Horizont versank, die Sterne am klaren Nachthimmel erschienen und frisch gefangene Makrelen über dem Feuer in dem kleinen Kohlenbecken brutzelten - das war der Teil des Tages, den Murdo am meisten mochte; denn dann pflegte er sich gegen einen der Getreidesäcke zu lehnen, seine Bierration mit den Mönchen zu trinken und den Gesprächen zu lauschen, welche die Kirchenmänner beim Kochen führten. Größtenteils waren diese Unterhaltungen vollkommen unsinnig - jedenfalls soweit es Murdo betraf. Sie diskutierten über die Rangfolge der fünf Sinne, ob Cherubim sich jemals zu Engeln entwickelten, ob der Mond voller Teufel sei und so weiter.
Nach dem Essen ließ sich Emlyn häufig dazu überreden, eine Geschichte zu erzählen. Er besaß eine schöne, ausdrucksvolle Stimme und einen schier unerschöpflichen Schatz an Geschichten, von denen einige zwei, drei Nächte lang dauerten. Laut Emlyn handelte es sich dabei lediglich um alte Geschichten seines Volkes - von denen er einige im übrigen im Skriptorium seines Klosters niedergeschrieben hatte -, und alt waren sie zweifelsohne. Dennoch erzeugten sie eine seltsame Wirkung auf Murdo, der sich von ihnen magisch angezogen fühlte und auf eine Art von ihnen fasziniert war, daß er sich schämte, es offen auszusprechen.
Der Kymre erzählte sie gut, denn er paßte seine melodische Stimme stets den verschiedenen Stimmungen in den Geschichten an: Mal sprach er gedämpft von Furcht und Leid, mal zitternd von Zorn oder laut von großen Triumphen. Bisweilen sang Emlyn sogar, und das mutete noch weit eigentümlicher an, denn er sang die wunderschönsten Lieder in einer merkwürdigen Sprache; doch obwohl Murdo kein einziges Wort verstand, fühlte er sich allein durch die Melodie zutiefst gerührt.
Wenn ein solches Lied zu Ende war und Murdo fragte, wovon es gehandelt habe, gab Emlyn meist etwas zur Antwort wie: »Ah, das waren Rhiannons Vögel.«, oder: »Das war Branwens Trauergesang über den Tod ihres Kindes.«, oder: »Das war Llew Silberhands Triumph über die Cythrawl.«, und ja, bestätigte Murdo danach jedesmal, er habe die Vögel gehört und Branwens Trauer und Llews Freude empfunden.
Im Laufe der Monate riefen die Geschichten und Lieder in Mur-do eine seltsame und starke Sehnsucht hervor - ein Verlangen nach etwas, das er nicht kannte. Es war ein Gefühl, als hätte man ihm gestattet, eine Kostprobe von einem unglaublich wohltuenden Elixier zu nehmen, nur um ihm den Becher sofort wieder von den Lippen zu reißen.
Gelegentlich fing Murdo in den Worten des Kymren das Echo von etwas auf, das auch aus dem Munde seiner Mutter hätte stammen können, und dann wiederum glaubte er, einen Ruf aus der Anderswelt gehört zu haben - eine Stimme, die über die Jahre hinweg zu ihm herüberhallte, ein ferner Schrei, leise wie ein Flüstern und so vertraulich wie ein Kuß -, und der Schock des Erkennens ließ ihm die Haare zu Berge stehen und sein Herz schneller schlagen.
Eines Nachts lauschte er Emlyn, wie dieser die Geschichte von Rhonabwy sang, und noch Tage danach fühlte er sich leer, doch sonderbar erregt. Eine innere Unruhe erfüllte ihn, und er war so nervös, daß Jon Reißzahn dies bemerkte und die Vermutung äußerte, auf dem Schiff werde es Murdo allmählich zu eng. »Das geht wieder vorbei«, versicherte ihm Jon. »Am besten, du denkst gar nicht darüber nach.« Doch Murdo wußte, daß seine Unruhe nichts mit der Enge des Schiffes zu tun hatte, sondern in der verrückten Welt begründet lag, die Emlyn mit seinen Geschichten heraufbeschwor.
Falls jemand anderes ähnlich empfand, dann erfuhr es
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