Der Sohn des Kreuzfahrers
Erleichterung. Er hatte das Gefühl, als könne er mit einem einzigen Wort Berge versetzen oder den Mond vom Himmel holen; er fühlte sich in der Lage, mit einem einzigen Aufstampfen ganze Heerscharen von Feinden in ihre dunklen Höhlen zurückzutreiben.
Sie setzten ihren Weg fort, doch Murdo war es nicht länger zufrieden zu gehen: Er wollte rennen. Er wollte fliegen!
»Komm schon, Emlyn!« rief er und lief einige Schritte voraus. »Meine Brüder warten! Beeil dich! Wir sind bald da! Schneller!«
»Ich beeile mich doch schon«, erklärte der Mönch und behielt sein gemächliches Tempo bei. »Geduld ist auch eine Tugend, weißt du?«
Sie durchquerten das Tal unterhalb der Stadtmauern von Jerusalem. Als der Weg sich schließlich die Hügel hinaufwand, war auch Mur-do davon überzeugt, es sei besser, langsamer zu gehen. »Wenn du von Anfang an nicht an das Dekret des Papstes geglaubt hast, warum bist du dann nach Jerusalem gekommen?« fragte er und gesellte sich wieder zu seinem Freund. »Wenn nicht für den Kreuzzug, warum hast du dann die Pilgerfahrt angetreten?«
»Es gibt so viele Gründe für eine Pilgerfahrt, wie es Wege und Pilger gibt«, antwortete Emlyn.
Damit gab sich Murdo nicht zufrieden. »Und was war dein Grund?«
Emlyn schürzte die Lippen. »Man hat...« Er zögerte einen Augenblick lang. »Man hat uns befohlen, nach Jerusalem zu gehen.«
»War es König Magnus, der euch das befohlen hat?« fragte Mur-do.
»Nein«, antwortete Emlyn. »Man hat es uns in einer Vision befohlen. König Magnus' Ruf kam später.«
Murdo blickte zu dem Mönch, um sich zu vergewissern, daß er richtig verstanden hatte. »Was war das für eine Vision?«
»Eine recht gewöhnliche, glaube ich«, erklärte der Mönch. »Man hat uns befohlen, hierherzukommen und zu warten, bis Gott uns sagt, was wir tun sollen.«
»Und?« hakte Murdo nach. »Hat Gott es euch gesagt?«
»Das hat er«, antwortete Emlyn. »Was wir in Antiochia erfahren haben, hat unsere Vision bestätigt.« Er betrachtete damit die Angelegenheit offenbar als erledigt, doch Murdo machte die Zurückhaltung seines Freundes äußerst ungeduldig.
»Du hast gesagt, du seist mein Freund«, erinnerte er ihn. »Ich habe dir die tiefsten Geheimnisse meiner Seele anvertraut. Ich werde dich nicht hintergehen.«
»Man hat uns befohlen, die Lanze zu retten.«
Die Antwort war so weit entfernt von dem, was Murdo erwartet hatte, daß er beinahe vor Überraschung gestolpert wäre. »Die heilige Lanze?« fragte er nach, als gäbe es noch eine andere.
»Genau die«, antwortete der Mönch. »Man hat uns befohlen, die Reliquie vor jenen zu retten, die sie mit ihrer Blasphemie beflecken.«
»Wer hat euch gesagt, daß ihr das tun sollt?« erkundigte sich Mur-do, obwohl er die Antwort bereits ahnte.
»Der heilige Andreas«, antwortete Emlyn und erklärte, daß Ronan der einzige gewesen sei, der den Heiligen gesehen habe. »Wie ich gesagt habe, war es in einer Vision. Fionn und ich vertrauen auf Ronans Urteil in solchen Angelegenheiten. Bruder Ronan ist ein frommer und demütiger Mann.«
»Das bezweifele ich nicht«, erwiderte Murdo. Sein Herz brannte. Sollte er Emlyn sagen, daß auch er den geheimnisvollen Heiligen getroffen hatte?
Bevor er jedoch den Mut dazu aufbringen konnte, rief der Mönch: »Da! Auf dem Hügel! Ich sehe Balduins Lager!«
(1 ^ er Graf von Edessa hatte sein Lager an den Hängen des Ölbergs und sein eigenes Zelt auf dem Gipfel errichtet. Auf allen Seiten brannten Lagerfeuer, im Westen bis hinunter ins Kidrontal vor den hoch aufragenden Mauern der Heiligen Stadt. Da die Nacht warm war, hielten die Soldaten die Feuer klein; sie dienten lediglich als Lichtquelle, um die Gesichter der Männer zu erhellen, die sich um die Feuer herum versammelt hatten, miteinander redeten, aßen und den dunklen Wein des Heiligen Landes tranken.
Balduin hatte vierhundert Ritter und Fußkämpfer mitgebracht -alle, die er hatte entbehren können, ohne die Verteidigung von Edes-sa zu vernachlässigen. Sie waren kurz nach Mittag in Jerusalem eingetroffen, und Balduin war sofort in die Stadt geeilt, um sich mit seinem Bruder Gottfried zu beraten, während seine Edelleute sich um die Errichtung des Lagers kümmerten. Wie üblich hatten sich die verschiedenen Gruppen - Franken, Skoten, Flamen, Normannen und andere - mit ihren Verwandten und Landsleuten zusammengetan und ihre Zelte um ein, zwei Feuer herum errichtet. So fiel es Murdo und Emlyn nicht sonderlich schwer, die Männer
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