Der Sohn des Sehers 01 - Nomade
Eine Leine sollte entlang der Speere gespannt werden, um den Bereich mit Umhängen vor neugierigen Blicken zu schützen. Curru verlangte nach zwei Bronzeschalen, doch verfügte der Sger nicht über solche Gefäße. Der Yaman gab daraufhin Tuwin und Bale den Auftrag, die Schalen in einem der Gehöfte gegen etwas Salz einzutauschen.
»Und wenn sie sie nicht hergeben wollen?«, fragte Tuwin.
»Dann überzeugt sie eben«, meinte Curru, »aber achtet darauf, dass die Schalen nicht mit Blut verunreinigt werden. Und bringt sie mir rasch. Auch Wasser aus dem Fluss brauche ich, denn ich muss die Schalen in jedem Fall säubern.«
»Wenn wir sie überreden sollen, müssen wir mehr als zwei sein«, brummte Bale, »sonst wehren sie sich vielleicht.«
Der Einwand war berechtigt, und so entschied Yaman Aryak, dass vier weitere Krieger die beiden begleiten sollten. »Du kannst sie dir aussuchen, Tuwin, doch wenn du meinen Sohn Eri mitnehmen solltest, habe ein Auge auf ihn.«
Tuwin stutzte. »An ihn hatte ich eigentlich nicht gedacht, ehrwürdiger Yaman, aber ich sehe ihn auch nicht.«
Awin biss sich auf die Lippen. Eri und Merege, das hatte er fast vergessen.
Der Yaman runzelte die Stirn. »Ebu, Ech, wo ist euer Bruder?«
»Ich weiß es nicht, Baba«, antwortete Ech. »Ich habe ihn beim Essen noch gesehen.«
»Ich sah ihn«, meinte Harbod, »ich glaube, er ging hinunter zum Fluss.«
»Zum Fluss?«, fragte Aryak und erbleichte. »Und das sagst du erst jetzt?«
Harbod zuckte mit den Schultern. »Er ist nicht mein Sohn.«
Die Krieger, die damit beschäftigt waren, nach Currus Anweisungen die Speere als Pfosten zu setzen, hielten inne.
»Vielleicht … Er ist ein Knabe, vielleicht wollte er sie nur beim Baden beobachten«, meinte Bale lahm.
»Das wollte er nicht«, rief eine kühle Stimme. Leise Schritte kamen aus der Dunkelheit. Es war Merege, die vom Dhanis zurückkehrte. Ihre schmale Gestalt zeichnete sich als Umriss vor dem silbernen Band des breiten Stromes ab. Sie trat ans Feuer und warf Yaman Aryak etwas vor die Füße. Es war ein Sichelschwert, die Klinge in zwei Teile zerbrochen. »Dies gehört deinem Sohn, Yaman.«
Aryak starrte stumm auf das Schwert zu seinen Füßen. »Ist er …« begann er, aber er brachte die Frage nicht zu Ende.
»Nein, er ist nicht tot, wenn du das meinst, Yaman. Ich töte keine Kinder. Aber es ist gut möglich, dass er weint, weil ich sein Spielzeug zerbrochen habe.«
Tuwin bückte sich nach der Klinge. »Ich habe dieses Schwert selbst geschmiedet. Es war eine gute Waffe. Wie hast du …?«
»Ist das die einzige Frage, die dich beschäftigt?«, unterbrach ihn Merege kalt.
Awins Blick fiel unwillkürlich auf das Schwert, das an ihrem Gürtel hing. Es steckte in einer unscheinbaren ledernen Scheide. Es war gerade, schmal und nicht sehr lang. War es möglich, dass sie eine Eisenklinge besaß? Oder hatte sie Zauberei verwendet, um Eris Klinge zu zerbrechen? Warum hatte er nicht seinen Bogen verwendet? Eri war ein guter Schütze. Awin konnte Tuwin ansehen, wie sehr ihn der Bruch der von ihm gefertigten Klinge in der Ehre traf. Aber Merege hatte Recht. Es gab andere Fragen.
»Wo ist er jetzt?«, fragte Yaman Aryak mit bebender Stimme.
Merege zuckte mit den Schultern. »Vermutlich immer noch unten am Fluss, Yaman.«
»Ebu, Ech, sucht ihn und bringt ihn her. Sofort!« Der Yaman trat einen Schritt auf das Mädchen zu. »Er hat mich entehrt, doch auch auf mich fällt Schuld, junge Kariwa, denn er hatte gedroht, etwas gegen dich zu unternehmen, und mein Verbot war nicht stark genug, ihn davon abzuhalten. Dieser Angriff ist also auch mein Versagen. Du siehst mich zutiefst beschämt.«
»Es war ein Fehler, auf dein Wort zu vertrauen, Yaman«, entgegnete Merege. »Ich werde heute Nacht an einem anderen Ort ruhen, und ich bin sehr im Zweifel, ob ich euch weiter begleiten kann.«
Der Yaman nickte betroffen. Eri hatte die Ehre seines Vaters mit Füßen getreten wie schon bei den Ereignissen an jenem Bach in Srorlendh. Die Krieger wirkten verunsichert oder schockiert,
denn sie begriffen sehr wohl, dass Eris Tat den ganzen Klan entehrt hatte. Der Yaman setzte sich ans Feuer und starrte in die Flammen. Awin fragte sich, was er mit Eri anstellen würde, wenn seine Brüder ihn zurückgebracht hätten. Ebu und Ech sattelten ihre Pferde mit versteinerter Miene. Sie nahmen Speer und Schild zur Hand und setzten sogar ihre Kriegsmasken auf. Sie brachen auf, einen Verräter vor den Yaman zu bringen, und
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