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Der Sohn des Sehers 01 - Nomade

Titel: Der Sohn des Sehers 01 - Nomade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Fink
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allein.«
    Der sichelförmige Mond war inzwischen aufgegangen. Er war blutrot. Man musste kein Seher sein, um das für ein schlechtes Zeichen zu halten. Die Männer zogen sich zurück. Awin fing einige wohlmeinende Blicke von Mabak und Tauru auf, und auch Mewe nickte ihm aufmunternd zu. Dann waren sie allein. Eine Fackel steckte in der Mitte ihres Kreises und warf flackerndes Licht auf den staubigen Boden. Ein Trinkschlauch und ein Dolch lagen dort zwischen den beiden Bronzeschalen, die Tuwin gebracht hatte.
    »Nun gut, Awin, Kawets Sohn. Dies also ist der Augenblick, den du sicher schon ersehnt hast. Wenn ich ehrlich bin, glaube ich nicht, dass du überhaupt fähig bist, diese Reise anzutreten. Sollte es dir wider Erwarten doch gelingen, wird der Rückweg dir noch weit schwerer fallen als der Aufbruch. Nun, ich habe davon abgeraten, dich mitzunehmen, und wenn du scheiterst, wird mir niemand etwas vorwerfen können, auch der Yaman nicht, dem dein Leben nicht so sehr am Herzen zu liegen scheint, wie es sollte. Aber es sind düstere Zeiten, und wir stehen vor großen
Fragen. Dies ist das Wichtigste - die Frage! Du musst klar vor Augen haben, zu welchen Orten und Menschen dich dein Pfad führen soll. Und du musst wissen, welche Fragen du denen stellen willst, die dir begegnen. Hast du das verstanden?«
    Awin fühlte sich elend. Was, wenn er versagte? »Ja, Meister, das heißt …«
    Curru seufzte und legte Awin väterlich die Hand auf die Schulter, eine Geste, die Awin seit Jahren nicht mehr bei ihm gesehen hatte. »Schau, mein Junge, es gibt Berichte von diesen Reisen, geheime Berichte, die nur die Seher kennen. Ich habe einige von meinem Meister gehört, und glaube mir, keine dieser Reisen war wie die andere. Ich kann dir also nicht viel mehr sagen. Richte deine Gedanken auf den Feind und auf den Lichtstein, wenn du es vermagst.«
    »Ja, Meister.«
    »Gut, mein Junge. Es sind noch Vorbereitungen zu treffen. Zunächst müssen wir hier im Inneren einen weiteren Kreis ziehen. Nimm dein Schwert und ziehe die Linie in den Boden. Achte darauf, dass sie geschlossen ist. Und dabei sprichst du immer wieder die folgenden Worte: ›Dies ist der Erdkreis, mein Geist wird ihn nicht verlassen.‹ Hast du das verstanden?«
    »Ja, Meister.«
    Sie zogen die Linie in den harten Boden. Curru in die eine, Awin in die andere Richtung. Er hörte seinen Meister die Worte murmeln, die er auch selbst ständig wiederholte: »Dies ist der Erdkreis, mein Geist wird ihn nicht verlassen.« Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt, denn er fragte sich, ob diese dünne Linie im Staub wirklich über Wohl und Wehe ihrer Unternehmung entschied.
    Sie hielten sich eng am äußeren Ring der Speere. Awin ächzte, denn die Spitze seines Sichelschwertes verbog sich bald in der harten Erde. Aber er ließ nicht nach und vollendete den
Kreis, immer wieder die Worte flüsternd, die Curru ihm vorgesagt hatte. Als sie fertig waren, schritt Curru mit der Fackel noch einmal den Kreis ab und überprüfte die Linie. Er fand keine Unterbrechung und nickte zufrieden, dann rammte er die Fackel wieder in den Boden. »Es ist nicht mehr weit bis Mitternacht, und das ist gut. Setz dich, mein Junge. Wir werden gleich sehen, ob dein Geist bereit ist.«
    Die beiden Bronzeschalen standen dort, ein Trinkschlauch lag daneben. Curru goss etwas Wasser in die Schalen, nahm den Dolch und schnitt sich damit leicht in die Handfläche. Blut trat aus, und er ließ es in die Schale tropfen. Wortlos wischte er die Waffe mit einem Tuch ab und reichte sie seinem Schüler. Awin nahm sie und tat es ihm gleich. Der Schmerz zuckte durch seine Handfläche, dann tropfte Blut in seine Schale. Er gab Curru den Dolch zurück. Im flackernden Licht der Fackel öffnete der alte Seher den Beutel, den Awin schon am Mittag bei ihm gesehen hatte. Er nahm eine Handvoll getrockneter Beeren heraus. »Dies ist die Rabenbeere. Nimm vier Stück davon.«
    Awin zögerte. Er kannte die Beere, sie war hochgiftig.
    »Ich weiß, dass wir die Kinder immer vor dieser verlockenden Frucht warnen, doch jetzt bist du ein Mann - oder nicht?«
    Awin nahm die Beeren und betrachtete sie.
    »Du nimmst eine in den Mund, schluckst sie unzerkaut und trinkst etwas von dem Wasser aus deiner Schale. Dann bittest du die Große Weberin um ihren Segen. Sage: ›Dein Reich betrete ich, deine Gnade erbitte ich, deine Hilfe suche ich, Tengwil, allsehende Schicksalsweberin. Öffne mir die Augen. Zeige mir, was ist. Zeige mir, was war. Zeige mir,

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