Der Sohn des Sehers 01 - Nomade
»Hat es noch jemand außer uns geschafft, Merege?«, fragte er langsam.
»Ich weiß es nicht, Awin. Ich sah den Yaman fallen, von einem Speer durchbohrt. Und Mewe ritt dicht an mir vorüber und war schwer verletzt. Mehr kann ich dir nicht sagen.«
»Schon gut«, murmelte Awin. Er hatte keinen Zweifel daran, wie der ungleiche Kampf ausgegangen war. Hätte sie ihn dort nicht fortgebracht, wäre er jetzt ebenso tot wie seine Brüder. Er stöhnte. Sie waren alle tot.
»Wenn es dir gut genug geht, müssen wir aufbrechen, Awin.«
»Wohin?«, fragte er geistesabwesend.
»Wir haben kein Wasser«, erklärte sie schlicht.
Er nickte. Sein Wasserschlauch hing am Sattel seines Schecken. Sein Pferd war gestürzt, mehrfach verwundet. Awin versuchte, die furchtbaren Bilder abzuschütteln. Er seufzte. »Ich glaube nicht, dass uns die Pforten der Siedlungen offen stehen, Merege. Wo willst du also Wasser hernehmen?«
Sie sah ihn an, und ihre Augen verengten sich. »Da, wo es die Löwen, die wir gestern gehört haben, auch hernehmen, oder glaubst du, die Dorfbewohner tränken sie?«
Awin errötete und murmelte etwas davon, dass er auf diesen Gedanken auch noch gekommen wäre, aber das stimmte natürlich nicht. Als er nach Osten sah, war ihm, als läge dort ein Lichtschimmer in der Abenddämmerung.
»Was ist das?«, fragte er.
Merege zuckte mit den Schultern. »Ich nehme an, es sind die Lagerfeuer eurer Feinde. Sie feiern wohl den Sieg.«
Awin biss sich auf die Lippen und fasste nach seinem Sichelschwert. Es lag neben ihm auf dem Boden, dort, wo er es fallen gelassen hatte. Für einen Augenblick dachte er daran, zurück zum Schlachtfeld zu gehen, aber dann schüttelte er den Kopf. Merege hatte Recht. Sie feierten ihren Sieg. Das wollte er nicht sehen.
Als sie nach Süden aufbrachen, schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Da war noch etwas, was er das Mädchen unbedingt fragen musste: »Sag, Merege, eines verstehe ich noch nicht. Du hast uns von dort fortgebracht, gerettet, von einem Augenblick auf den nächsten, aber warum hast du dich noch damit aufgehalten, diesen Akkesch zu töten?«
Merege blieb stehen und drehte sich zu ihm um. Schweigend sah sie ihm in die Augen. Dann verstand er. Er schluckte. »Du musstest ihn töten, um …?« Er brachte die Frage nicht zu Ende, und sie gab ihm keine Antwort.
Eine Weile kletterten sie schweigend durch die roten Felsen. Sie stiegen um große Steinbrocken herum, krochen über steile Hänge und sprangen über tiefe Spalten, bis die Nacht hereingebrochen war und es zu gefährlich wurde, weiterzugehen.
»Wir brauchen ein Feuer«, sagte Merege.
»Ein Feuer?«, brummte Awin. »Um unsere Verfolger anzulocken?«
»Um die Löwen fernzuhalten«, lautete die kühle Antwort.
Awin stutzte, dann fragte er: »Aber kannst du nicht, ich meine, du hast doch auch diesen Akkesch …«
Sie fuhr zu ihm herum. Es war zu dunkel, um ihr Gesicht zu sehen, aber er konnte ihre Wut fühlen. »Es wird noch lange dauern,
bis ich wieder Kraft nehmen kann. Im Augenblick könnte ich keinen Feind abwehren, sei es ein Mensch oder ein Löwe.«
Awin murmelte verlegen eine Entschuldigung und suchte in der Finsternis nach Holz. Er stolperte über einen verdorrten Baum, der seinem Sichelschwert keinen Widerstand leistete. Sie fanden eine geschützte Ecke, und Awin entzündete ein Feuer.
»Glaubst du, das reicht, um die Löwen abzuschrecken?«, fragte er.
Sie zuckte mit den Schultern. »Wir werden es vielleicht herausfinden.«
Awin starrte nachdenklich in die Flamme. Er hatte viele Fragen, aber er war sich nicht sicher, ob er sie stellen sollte. Merege hatte einen Menschen töten müssen, um zaubern zu können, so viel hatte er verstanden. Wenn das der Weg der Kariwa war, wollte er gar nicht mehr darüber wissen. Wollen? Du musst! , flüsterte ihm seine innere Stimme zu, und schließlich gab er ihr nach.
»Du sagtest, Senis könne das besser als du?«, begann er schließlich.
Sie blickte starr in die Flammen. Dann sagte sie: »Erinnerst du dich daran, wie erstaunt ihr wart, als wir vor euch am Rotwasser waren?«
Awin nickte. Dann fiel es ihm wieder ein: »Der Ochse! Da war nur noch ein Ochse!«
»Auch Senis braucht etwas Lebendes, um …« Sie stockte, dann fuhr sie fort: »Die Kraft von Tieren ist uns fremder als die von Menschen. Es ist schwerer, sie zu … nehmen.«
Awin schauderte, als er darüber nachdachte. Nein, er war nicht bereit, mehr darüber zu hören, noch nicht, nicht jetzt. »Sag, Merege:
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