Der Sohn des Sehers 01 - Nomade
Senis, wie alt ist sie?«, fragte er. Diese Frage schien ihm in weniger dunkle Gewässer zu führen.
Zu seiner Überraschung lächelte Merege, als sie antwortete:
»Ich habe meiner Großmutter einmal dieselbe Frage gestellt. Sie sagte, Senis sei schon uralt gewesen, als sie geboren wurde. Ja, meine Großmutter erzählte mir, dass sie ihrer Großmutter einst dieselbe Frage gestellt habe - und die Antwort sei die gleiche gewesen.«
Awin lehnte sich an die Felswand und schloss die Augen. Der harte Stein hatte etwas Beruhigendes, er war etwas, das er begreifen und festhalten konnte.
Merege fuhr ungerührt fort: »Man erzählt sich bei uns im Dorf, dass sie schon alt war, als die ersten Wächter ausersehen wurden, das Skroltor zu bewachen. Sie spricht nie darüber, aber einige behaupten, sie sei die Tochter eines Riesen.«
Wie hatte er nur glauben können, diese Frage führe zu weniger verwirrenden Antworten? Er hatte die kleine bucklige Gestalt Senis’ vor Augen und schüttelte den Kopf. »Das ist doch Unsinn, kein Mensch kann Kind eines Riesen sein!«
»Es ist nur ein Geschichte, ich habe nie behauptet, dass sie wahr ist«, antwortete Merege.
»Du ziehst mich auf!«, rief er.
Merege lachte leise. »Das ist gut möglich, Hakul.«
Natürlich, das waren alles nur Geschichten, Ammenmärchen, nichts davon war wahr, versuchte Awin sich einzureden. Und doch saß er am Feuer, lebend, und lag nicht tot in der Ebene, wie es hätte sein müssen.
»Kann ich nun dich etwas fragen, Awin?«
Er blickte überrascht auf. Sie fragte sonst nie. Er nickte.
»Der Heolin, den du - den wir suchen sollen: Was ist das?«
Awin seufzte, und dann erzählte er ihr die Geschichte von Etys, dem Ersten Fürsten, der in die hohen Berge geklettert war und Edhil ein Stück Zierrat vom Sonnenwagen geraubt hatte und wie er mit verbrannter Hand durch Schnee und Eis zurückkam, um die vielen Sippen und Stämme der Hakul gegen ihre
Feinde zu vereinen. Er erzählte, wie der Stein Etys mit ins Grab gegeben wurde, weil die Seher es verlangten, und wie der Heolin von Etys’ Grab aus die Hakul vor Xlifara Slahan geschützt hatte, der Gefallenen Göttin und Menschendiebin. »Jetzt ist er geraubt, vielleicht sogar für immer verloren in Uos Mund. Ich habe immer geglaubt, diese Geschichten seien nur dazu da, die Kinder zu erschrecken, aber diese Winde und Stürme, die seit Tagen über die Lande ziehen - manchmal glaube ich fast, es stimmt, und das Böse in der Wüste macht sich nun bereit, wieder über uns herzufallen.«
Merege hatte ihm aufmerksam zugehört, ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen. »Hast du ihn gesehen, diesen Stein?«, fragte sie jetzt.
»Nein, auch in meinen Träumen ist er mir nie erschienen. Es ist seltsam, doch die Große Weberin hält manche Dinge wohl vor mir verborgen.«
»Und er hatte eine verbrannte Hand, euer Fürst?«
Das schien sie zu beschäftigen. Er nickte. »Es war die rechte, ich habe es selbst gesehen, als ich an seinem Grab stand«, fügte er hinzu und spürte dabei ein Echo der Ehrfurcht, die er dabei empfunden hatte.
Sie blickte mit gerunzelter Stirn lange in die Flamme. Er sah wieder das schwarze Zeichen über ihrem Jochbein.
»Uos Sichel«, sagte sie, ohne ihn anzusehen.
»Was?«
»Das ist der Name des Sternzeichens, das du so anstarrst, junger Seher.«
Zögernd fragte er: »Und … was bedeutet das?«
»Es ist das Zeichen, das unseren Himmel zu Mittwinter beherrscht, der Zeit, in der ich … ich wurde.«
»Du meinst, in der du geboren wurdest?«, fragte Awin. Er hatte so etwas in der Art auch von den Akkesch gehört. Angeblich
bestimmten die Sterne ihrer Geburtsstunde ihr ganzes Leben.
»Nein, Awin. Ich war schon elf Jahre alt, als die Ältesten endlich meine Bestimmung ergründen konnten, und das war im Mittwinter.«
» Schon elf?«, fragte Awin vorsichtig.
»Mit zwölf sollte die Bestimmung einer Kariwa offenbar geworden sein, denn dann hat sie das Zeichen der ersten Reife erreicht. Kennt ihr Hakul so etwas nicht?«
Awin seufzte. Ihm selbst war sein Schicksal schon in die Wiege gelegt worden, aber er war eine Ausnahme. Der erste Kriegszug war die Prüfung für jeden Heranwachsenden. Dann zeigte sich, ob er zum Krieger taugte oder als Feigling davongejagt werden musste. »Nein, so etwas kennen wir nicht«, behauptete er schließlich, »bei uns werden die Söhne meist, was die Väter waren, und die Töchter …« Er beendete den Satz nicht, sondern zuckte mit den Achseln. Merege warf ihm einen
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