Der Sohn des Sehers 01 - Nomade
kurzen, aber sehr missbilligenden Blick zu und starrte dann wieder ins Feuer. Awin lauschte auf die Geräusche der Nacht. Wind zog um die Felsen, aber er war schwach und sanft. Skefer, dachte er, der Überbringer schlechter Nachrichten. Wenn er auf seiner Wanderung bis zu den Zwillingsquellen kommt, hat er viel zu erzählen. Er dachte an seine Schwester Gunwa, an Wela und seine Ziehmutter Egwa, die ihren Mann an diesem Tag verloren hatte. Sein Magen zog sich zusammen, als er wieder an die Gefallenen dachte.
»Kann ich dir auch eine Geschichte erzählen, Awin?«, fragte Merege nun unvermittelt.
»Wie? Ja, natürlich«, erwiderte er, dankbar für die Ablenkung, und warf noch etwas Holz in ihr kleines Feuer. Er hoffte, diese Geschichte würde nicht die finsteren Dinge berühren, über die sie schon gesprochen hatten.
»Wir sind die Kariwa«, begann sie. »Wir leben hoch im Norden, unsere Sommer sind kurz und kühl, die Winter lang und dunkel. Und doch ist meine Heimat schön und voller Wunder. Es gibt Wasser, das selbst im kältesten Winter heiß aus der Erde steigt und zum Bad einlädt, es gibt Berge, die glühendes Gestein ausspucken, und Tiere, die du dir noch nicht einmal vorstellen kannst. Das größte Wunder aber ist das Skroltor, jenes große Tor, das Brond selbst geschmiedet hat für die Mauer, die die Riesen errichtet haben, um die Daimonen von unserer Welt fernzuhalten.
Awin, diese Mauer ist vielfach höher und stärker als die Mauer der Akkesch, die dir so gewaltig erschien. Und es ist die Aufgabe der Kariwa, das Tor zu bewachen. Du kannst sie manchmal hören, die Daimonen und Alfskrols, wie sie am Tor rütteln, weil sie die Sehnsucht treibt - die Sehnsucht, zurückzukehren in die Welt der Menschen. Unsere Zahl ist gering, Awin, und wir leben abgeschieden von unseren Nachbarn. Es ist selten, dass sich ein Händler zu uns verirrt, denn der Weg ist beschwerlich. Im Sommer führt er durch weite, mückenverseuchte Sümpfe, im Winter durch endlose Schneewüsten. Und doch kam eines Tages vor langer Zeit ein Fremder zu uns. Es war ein entflohener Sklave, am Hals trug er noch die bronzene Fessel seines Standes. Unsere Schmiede befreiten ihn davon. Wir gaben ihm Nahrung und Kleidung, und es heißt, dass sich sogar eines unserer Mädchen in den seltsamen Fremden verliebte. Er sprach wenig, nannte weder einen Namen noch eine Herkunft, doch drängten wir ihn auch nicht, denn es war offensichtlich, dass er eine grausame Zeit hinter sich hatte. Du musst wissen, dass die wenigen, die zu uns kommen, niemals zum Skroltor gehen. Es ist furchterregend in seiner Höhe, mit seinen schwarzen Steinen und der Zauberkraft, die in ihm wohnt und die jeder Mensch spüren kann. Der Fremde aber war ohne Furcht. Er
bewunderte das Tor, lobte seine Bauart, vor allem aber bewunderte er Edhils Siegel.«
Merege starrte nachdenklich in die Flamme.
»Was ist das, Edhils Siegel?«, fragte Awin.
»Als Brond das Tor gefertigt hatte, musste es verschlossen werden. Daimonen, Alfholde und Alfskrols gebieten oft über große Kräfte, und selbst die riesigen steinernen Riegel, die das Tor verschließen, könnten sie nicht aufhalten. Auch sollte das Tor nicht für immer verschlossen sein. Edhil hat noch Pläne, auch mit den Geschöpfen seiner Albträume, doch verrät er sie uns nicht. Und deshalb schützt ein mächtiges Siegel dieses Tor, ein Siegel, das erst geöffnet wird, wenn das Ende unserer Zeit gekommen ist. Es hat die Form einer Sonne mit zwölf armlangen Strahlen, die die beiden Flügel verschlossen halten, und es gleicht nicht nur in der Form, sondern auch in der Hitze der Sonne. Kein Mensch kann sich ihm nähern, ohne dass es ihm die Haut vom Körper sengt, und niemand kann es berühren.«
Merege schwieg für einen Augenblick. Über Awins Rücken kroch ein Gefühl böser Vorahnungen. Er ahnte, was er gleich hören würde, aber das konnte nicht sein.
»Der Fremde jedoch fühlte sich angezogen von der Schönheit des Siegels. Eines Nachts, während eines fürchterlichen Schneesturms, tötete er den arglosen Wächter, schlich sich zum Siegel und brach einen der kunstvoll gefertigten Strahlen ab.«
Vor Awins Geist öffnete sich ein Abgrund.
Merege fuhr ungerührt fort. Ihre Stimme war kalt. »Wir wissen nicht, wie er es fertigbrachte, nicht gänzlich zu verbrennen, doch offensichtlich schaffte er es. Er entkam im Schneesturm. Wir glaubten all die vielen Jahrhunderte, er sei ertrunken, eingebrochen in einen der vielen zugefrorenen Seen,
Weitere Kostenlose Bücher