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Der Sohn des Sehers 01 - Nomade

Titel: Der Sohn des Sehers 01 - Nomade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Fink
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gegeben. Es war am einfachsten, anzunehmen, dass er tot war. Aber warum tat ihm dann jeder Knochen im Leib weh? Er stöhnte. Nachdenken brachte nichts. Er atmete.
    Die Luft war viel besser als unten in der Ebene, weniger Staub. Natürlich, er war ja gestorben. Und gleich würde ein strahlend schöner Schimmel erscheinen, seinen schneeweißen Rücken darbieten und ihn davontragen zu Marekets immergrünen Weiden. Neben ihm murmelte jemand Worte in einer fremden Sprache. Merege kniete immer noch neben ihm, totenbleich. Ob für sie auch Platz auf den Weiden des Pferdegottes war? Darüber hatte Awin noch nie nachgedacht. Er blinzelte. Sie öffnete die Augen. Sie waren so blassblau, wie er sie kannte, das unheimlich leuchtende Weiß war verschwunden. Tränen hatten Spuren auf ihren Wangen hinterlassen. Musste man im
nächsten Leben auch weinen? Awin schüttelte den Kopf. Die Schmerzen verblassten allmählich. »Sind wir tot?«, fragte er schließlich.
    Zu seiner Überraschung spielte plötzlich ein schwaches Lächeln um Mereges Lippen. »Nein, junger Seher, wir sind nicht tot«, antwortete sie leise.
    »Aber wo ist die Schlacht? Wo ist die Ebene? Wie sind wir …?«
    »Das erkläre ich dir, aber später, später. Gib mir noch einen Augenblick.«
    Awin hatte plötzlich das Gefühl, dass tausend glühende Nadeln in seinen rechten Arm stachen. »Lass dir Zeit«, murmelte er, »lass dir einfach Zeit.«
     
    Er konnte später nicht sagen, wie lange sie so dort gesessen hatten. Es mochte nur das Zehntel einer Stunde oder aber eine Vielzahl von Stunden gewesen sein. Vielleicht war er sogar kurz eingeschlafen, denn als Merege ihn ansprach, war es schon beinahe Abend.
    »Geht es wieder?«, fragte sie.
    Ihm wurde klar, dass sie ihn mehrfach gefragt haben musste. Er nickte. Sie stand vor ihm, der Wind spielte mit ihren Haaren. Es war nicht Isparra. Der Sturm hatte sich offenbar gelegt. Awin fühlte sich müde, fast wie nach seiner Reise. Er versuchte aufzustehen und war überrascht, dass es ohne Schwierigkeiten ging. Seine Beine zitterten nicht, und sein rechter Arm fühlte sich wieder an, wie er sich anfühlen sollte. Er sah sich um. Sie waren irgendwo im Glutrücken, wie sie es gesagt hatte. Er bemerkte ihren prüfenden Blick und sagte: »Wirklich, es geht mir gut.«
    »Es tut mir leid, ich bin nicht Senis«, erklärte sie.
    Awin hatte keine Ahnung, was sie meinte. Er holte tief Luft.
»Wo sind … Ich meine, warum oder wie, nein, was hast du gemacht?«
    Merege seufzte und blickte in die Weite. Am Himmel entfaltete sich ein prachtvolles Abendrot. »Ich habe uns hierher gebracht, Awin«, antwortete sie schlicht.
    Awin nickte. Er versuchte, die Bilder, die auf ihn einstürmten, zu ordnen. Das schmerzverzerrte Gesicht des Akkesch stand ihm vor Augen. Es ergab keinen Sinn.
    »Du weißt, dass Curru sagte, ich sei eine Zauberin …«, begann sie und vollendete den Satz nicht.
    Nein, das hat er nicht gesagt, dachte Awin, er hatte sie Hexe genannt. Aus ihren Händen kommt der Tod, das hatte er gesagt.
    »Wenn du so willst, stimmt das, auch wenn ich mir diesen Titel nie anmaßen würde«, fuhr Merege fort, »ich bin nur eine Wächterin, aber das, was du … erlebt hast, das ist Teil der Kunst, die ich noch erlerne.«
    Awin schwieg. Er bekam die Erinnerung an den sterbenden Akkesch nicht aus dem Kopf. »Senis beherrscht diesen Zauber natürlich viel besser als ich. Bei ihr spürt man nicht einmal, dass man den Ort wechselt«, erklärte sie jetzt.
    »Natürlich«, murmelte Awin, der sich auf einmal sehr schwach fühlte. Den Ort wechseln? Es klang einfach, aber Anstrengung und Schmerz standen Merege ins Gesicht geschrieben.
    »Geht es dir jetzt besser?«, fragte sie besorgt.
    »Viel besser. Eigentlich müsste ich doch tot sein, oder? Ich glaube, du hast mich gerettet.«
    Merege lächelte verlegen. »Senis sagte ja, wir sollten aufeinander aufpassen.«
    »Ja, das sagte sie.« Plötzlich begann Awin zu verstehen. »Das war … wie die Reise des Geistes, oder? Ich meine, es ist so ähnlich, nur dass ihr den Körper mitnehmt, oder?« Es klang dumm, als er es aussprach.

    »Das weiß ich nicht, Awin - ich verstehe mich nicht auf das, was du die Reise nennst.«
    »Und - wo sind wir, ich meine - genau?«, fragte er.
    »Im Glutrücken, gar nicht weit von der Schlacht entfernt.«
    Awin zuckte zusammen. Die Schlacht, seine Sgerbrüder. Die herrenlosen Pferde von Tuwin und Tauru; Bale, der von vielen Pfeilen getroffen umhertaumelte. Er schloss die Augen.

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