Der Sohn des Sehers 01 - Nomade
wie du denkst, Awin. Und wie blind du bist, das hast du mit deinem Vorwurf gerade bewiesen!«
Awin war sprachlos. Entweder log ihn der Alte aufs Unverschämteste an, oder er hatte ihm wirklich Unrecht getan. Er wusste es nicht. Er bekam Kopfschmerzen, aber das führte er auf den tückisch sanften Skefer zurück.
»Die Spitze ist nicht groß. Wir können diesen Pfeil vielleicht nicht herausziehen, aber wir können ihn hindurchstoßen«, sagte Merege plötzlich.
»Wie?«, fragten Curru und Awin wie aus einem Mund.
»So!«, erwiderte Merege, legte ihre schlanken Finger auf das Stückchen Holz, das noch aus der Wunde ragte, und stieß zu.
Curru schrie laut auf und taumelte zur Seite. Er wäre gestürzt, wenn Awin ihn nicht aufgefangen hätte. »Wollt ihr mich jetzt vielleicht beide umbringen, du und diese verdammte Hexe?«, fluchte er laut.
Awin starrte auf Currus Bein. Die Pfeilspitze stand vollständig heraus.
»Falls ich dich töten wollte, alter Mann«, erklärte Merege trocken, »hätte ich wohl jämmerlich versagt.«
Curru starrte auf sein Bein, murmelte einen Fluch, griff die Spitze und zog sie mit einem Ruck und einem Schrei ganz
heraus. Es blutete stark. Awin erneuerte den Verband mit einem Stück Stoff, das er aus seinem Umhang herausriss.
»Seltsam, dass so ein kleines Stück Erz so viel Schmerz verursachen kann«, meinte Merege, als die kleine Spitze auf dem Boden klirrte.
»Du solltest ruhen, Curru, gib der Wunde Zeit, sich zu schließen«, riet Awin.
Curru nickte schwach, setzte sich stöhnend und erwiderte: »Aber nicht lange, denn wenn wir nicht bald Wasser finden, brauche ich mir um diese Verletzung keine Sorgen mehr zu machen.« Dann streckte er sich aus und schloss die Augen.
»Er ist zäh«, sagte Awin, als sie sich ein Stück von ihm entfernt hatten, um ihm Ruhe zu gönnen.
»Dennoch wird er mit dieser Wunde nicht sehr schnell vorankommen«, erwiderte Merege kühl.
»Wir werden ihn auf keinen Fall zurücklassen«, stellte Awin klar.
»Es ist Art der Hakul, nicht der Kariwa, Verwundete im Stich zu lassen«, entgegnete Merege trocken. »Im Augenblick sieht es allerdings so aus, als habe euer Yaman uns alle drei zurückgelassen.«
»Er wird schon wiederkommen. Vielleicht sogar mit Wasser«, meinte Awin.
Merege zuckte mit den Schultern.
»Wenigstens erkundet er mögliche Wege, das kann nicht schaden«, fügte Awin hinzu. Ihr Gleichmut war für ihn schwer zu durchschauen und manchmal noch schwerer zu ertragen. Er war sich nie darüber im Klaren, was in ihr vorging, hatte keine Ahnung, was sie vorhatte und plante. Ob Senis gewusst hatte, dass sie dem Lichtstein hinterherjagten, als sie ihrer Ahntochter befahl, den Sger zu begleiten? Sie hatte nichts darüber gesagt.
Und Merege war ihnen nur unwillig gefolgt. Da hatte sie allerdings auch noch nicht gewusst, was sie suchten. Aber Senis? War es möglich, dass sie Merege mit einer ganz bestimmten Absicht gesandt hatte? »Ich hoffe, dir ist klar, dass wir dir den Heolin nicht überlassen können«, brach es plötzlich aus ihm heraus.
Die Kariwa sah ihn nachdenklich an. Ihre hellblauen Augen wurden wieder etwas schmaler.
»Du weißt, dass er uns gestohlen wurde, lange bevor der Fremde ihn euch raubte.«
»Er schützt uns Hakul schon viele hundert Jahre, und ganz offensichtlich kommt dein Volk auch ohne dieses Stückchen von diesem Siegel aus!«
»Das Skroltor bleibt nur geschlossen, weil mein Volk sich opfert, um das Siegel zu bewahren. Werden wir überwunden, werden die Daimonen diese Welt überrennen - auch die Hakul.«
»Dafür schulden wir euch Dank, aber wir werden dir nicht den Heolin geben, Kariwa!«
Merege warf ihm einen sehr kalten Blick zu, dann sagte sie: »Ich denke, wir sollten ihn erst einmal haben, bevor wir darüber streiten, wer ihn bekommt.«
»Wer wen bekommt?«, fragte eine helle Stimme.
Awin blickte auf. Auf einem Felsen über ihnen hockte Eri. Die Schwellung in seinem Gesicht hatte sich verfärbt, aber seine Augen strahlten unternehmungslustig.
»Nicht so wichtig«, meinte Awin lahm. »Hast du Wasser gefunden?«
Eri schüttelte den Kopf. »Nicht einmal eine Spur. Ich sah ein paar Geier kreisen, aber ich glaube, das hilft uns nicht, oder?«
Awin überlegte. Der Knabe hatte Recht, es half nichts.
»Wo ist unser Seher?«, fragte Eri.
»Curru ist dort drüben. Er muss sich ausruhen. Er ist zwar
den Pfeil losgeworden, aber die Wunde blutet wieder«, antwortete Awin.
»Wenn er es nicht schafft, werden wir ihn
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