Der Sohn des Sehers 01 - Nomade
zurücklassen müssen«, meinte Eri ruhig.
»Gebietest du über so viele Krieger, dass du so leicht auf ihn verzichten kannst, Eri?«, fragte Awin kopfschüttelnd.
Der Junge warf ihm einen giftigen Blick zu. »Er ist ein Hakul, er weiß, dass er den Sger nicht aufhalten darf.«
»Sger?«, fragte Awin. »Du nennst uns vier einen Sger?«
»Uns drei«, berichtigte ihn Eri, drehte sich um und verschwand.
»Nyet soll sich diesen Knaben holen und ihn weit, weit forttragen«, fluchte Awin.
»Awin!«, rief eine heisere Stimme. Es war Curru.
Er stand, zwar an den Felsen gelehnt und mit schmerzverzerrtem Gesicht, aber er war wieder auf den Beinen. Eri war bei ihm.
»Was gibt es, Meister Curru?«
Curru grinste schwach, und Awin verfluchte sich, weil er sich doch fest vorgenommen hatte, ihn nicht mehr Meister zu nennen.
»Mein Junge, du hast vorhin gesagt - und auch schon bei Serkesch, wenn ich mich richtig erinnere -, dass du sie gesehen hast, die Wasserstelle mit den Löwen.« Und als Awin nickte, fuhr er fort: »Du musst dich erinnern. An irgendetwas, das uns hilft, sie zu finden. Wir irren sonst noch Tage hier umher.«
»Wenn du das überhaupt kannst, Kawets Sohn«, fügte Eri in einer Mischung aus Zweifel und Herablassung hinzu.
Awin beschloss, diese Bemerkung zu überhören. Curru hatte Recht. Der Glutrücken war ein Gewirr von Felsen, Spalten, steilen Hängen und schmalen Tälern. Mit etwas Pech konnten sie den Teich um einige Dutzend Schritte verfehlen und würden
es nicht einmal merken. Awin versuchte, die Erinnerung heraufzubeschwören. Die Löwen, zum Sprung geduckt; der Junge, der Wasser schöpfte. Da war eine glatte Felswand im Hintergrund, die hatte er bisher nicht beachtet. Grobe Bilder waren in die Wand gemeißelt. »Ein behauener Felsen, glatt, mit Zeichen«, sagte Awin langsam.
»Weiter«, befahl Curru streng.
Awin schloss die Augen, nichts sollte dieses Bild stören. Der Teich. Die Löwen, die sich duckten. Die Bedrohung, die in der Luft lag. Etwas spiegelte sich im Wasser, verzerrt durch den Wellenschlag, als der Junge Wasser schöpfte. Es war ein seltsam geformter Felsen, fast wie eine doppelte Säule, schlank und hoch. Die Spitze. Etwas Schwarzes thronte auf einer der beiden Spitzen. Awin holte tief Luft. »Eine doppelte Felsnadel«, sagte er langsam. »Auf der einen ruht ein großes Nest, vielleicht Bussarde oder Geier.«
Eri staunte ihn mit offenem Mund an. »Ein Nest? Ich sah ein Nest, gar nicht weit von hier. Auf einer Felsnadel, wie du es sagtest!«
»Es erstaunt mich immer wieder, wie wenig du doch siehst, mein Junge«, meinte Curru. »Ohne meine Hilfe hättest du all das gar nicht wahrgenommen.«
Awin unterdrückte eine bissige Bemerkung. Er hielt es für zwecklos, sich mit dem Alten zu streiten.
»Folgt mir«, rief Eri und fügte hinzu: »Kariwa, du kannst den Seher stützen, dann kommen wir schneller voran.«
»Euer Seher scheint mir ganz gut zu Fuß zu sein, Eri, aber wenn du den alten Curru meinst, dann schlage ich vor, dass du ihm selbst hilfst«, entgegnete Merege gelassen, »oder hast du vergessen, dass ich nicht zu deinem Sger gehöre?« Und mit diesen Worten kletterte sie an Eri vorbei den nächsten Felsen empor, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen.
Eri griff nach dem Dolch am Gürtel, aber Awin legte ihm die Hand auf die Schulter. »Sie kann mehr als nur Schwerter zerbrechen, Eri, glaube mir.«
»Dann hilf du Curru, Awin. Er ist immerhin dein Ziehvater.«
Awin lag eine Antwort auf der Zunge, die der von Merege geähnelt hätte, aber Eri hatte natürlich Recht. Curru war sein Ziehvater, auch wenn nicht viel Liebe zwischen ihnen bestand. Hätte der Yamanssohn es ihm befohlen, hätte er abgelehnt, aber so … Er lernt schnell , dachte Awin und musste sich eingestehen, dass er dem Jungen so viel Klugheit nicht zugetraut hätte. Dann fiel ihm wieder ein, dass dieser Knabe ihn noch gestern an seiner statt hatte opfern wollen. Das würde er nicht mehr vergessen. Eri stapfte bald an Merege vorbei und übernahm wieder die Führung. Zu Awins Erleichterung war Currus Verletzung weniger schlimm, als er dachte. Er war außerdem stolz und lehnte Awins Hilfe ab, außer, wenn es ans Klettern ging, und das war nicht oft der Fall. Etwa eine halbe Stunde später sah Awin den Geierhorst auf der Felsnadel vor sich.
»Ist er das?«, fragte Eri aufgeregt. »Ist es der, den du gesehen hast?«
Awin runzelte die Stirn. Er hatte ihn nur gespiegelt gesehen, im Teich. Aber ja, er
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