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Der Sohn des Sehers 01 - Nomade

Titel: Der Sohn des Sehers 01 - Nomade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Fink
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Geist wird ihn nicht verlassen«, murmelte er. Das kratzende Geräusch der
Klinge erschien ihm so laut, dass er glaubte, es müsse in allen Gängen dieses unterirdischen Reiches zu hören sein. Seine Gedanken schweiften ab, und er fragte sich, wie es den anderen erging. Eri hatte geschworen, Merege nicht anzurühren, aber Curru hatte keinen solchen Schwur geleistet. Er stockte. Merege war allein mit den beiden, irgendwo in diesen Gängen. Plötzlich huschte ein unwillkürliches Lächeln über seine Lippen. Er hatte gesehen, wozu Merege fähig war, vielleicht sollte er sich also eher Sorgen um seine beiden Sgerbrüder machen? Er schüttelte den Kopf. Reiß dich zusammen , schimpfte seine innere Stimme.
    Er nahm Feuerstein und Zunder aus der Tasche. Er hätte viel für ein Stück Holz gegeben, aber so blieb ihm nur, ein Stück Stoff aus seinem Umhang zu reißen. Es brannte mehr schlecht als recht, gerade hell genug, um zu erkennen, dass der Kreis an zwei Stellen nicht geschlossen war. Awin zog diese Stellen nach. Er setzte sich und rief sich das Ritual in Erinnerung. Er hatte weder Rabenbeeren noch Wasser, aber er erinnerte sich an die Worte, die ihm Curru vorgesagt hatte: »Dein Reich betrete ich, deine Gnade erbitte ich, deine Hilfe suche ich, Tengwil, allsehende Schicksalsweberin. Öffne meine Augen. Zeige mir, was ist. Zeige mir, was war. Zeige mir, was sein wird«, flüsterte er. Er schloss die Augen und lauschte auf die Geräusche, die durch die Gänge klangen.
    Es war still, nur das leise Rieseln von Sand schien von überallher zu kommen. Es wurde lauter, pochender, wie sein allmählich ruhiger werdender Herzschlag. Awin verstummte und wiederholte die Zauberworte in Gedanken: Dein Reich betrete ich, deine Gnade erbitte ich, deine Hilfe suche ich, Tengwil, allsehende Schicksalsweberin. Öffne meine Augen. Zeige mir, was ist. Zeige mir, was war. Zeige mir, was sein wird. Wieder und wieder. Er wartete auf den Donner, der ihn beim letzten Mal auf der Reise begleitet
hatte, den Donner, der eigentlich sein Herzschlag war. Plötzlich wurde ihm klar, dass er die Tageszeit nicht wusste! War es schon Nacht? Nur im Schutze der Dunkelheit konnte er auf diese Reise gehen. Senis hatte ihn gewarnt - Edhils Licht würde ihn bei Tag verbrennen. Awin zögerte, die Zauberworte stockten. Er hatte nicht nur keine Ahnung, wo er war, er hatte auch das Zeitgefühl völlig verloren.
    »Nun ist es wohl zu spät für solche Bedenken, junger Hakul«, sagte eine vertraute Stimme.
    Es wurde heller, noch bevor Awin vorsichtig die Augen öffnete. Er war am Ufer des Meeres, und darüber verzehrte ein riesiger roter Ball den Himmel. Es brannte wie Feuer in seinen Augen, und Awin wandte sich entsetzt ab. Er blinzelte, und als er wieder einigermaßen sehen konnte, war da Senis, die aufs Meer hinausstarrte. Die Landschaft hatte sich verändert. Es gab keinen schwarzen Strand, nur dunkle Bäume, die noch im Meer zu wachsen schienen. Schwere Flechten hingen in ihren Ästen.
    »Es sind die letzten Strahlen der Sonne, junger Seher«, erklärte sie ruhig. »Nur ein wenig früher und du wärst verbrannt.«
    Awin nickte. »Deine Ahntochter, ich habe sie aus den Augen verloren«, begann er.
    Senis runzelte die Stirn und kam näher. Sie sah ihm mit ihren fast weißen Augen lange ins Gesicht, dann nickte sie. »Ihr seid Mächten begegnet, die ihr besser hättet meiden sollen, junger Seher. Uos Halle? Das hatte ich nicht erwartet.«
    Awin schwieg. Das Geschehen in der Kammer und in den unterirdischen Hallen und Gängen schien ihm mit einem Mal sehr weit weg zu sein.
    »Ich werde dir nicht viel helfen können, junger Hakul«, sagte sie seufzend. Sie drehte eine kleine Pflanze in ihren uralten Händen.

    »Ist das … Ist das die … die Wurzel, die du gesucht hast, ehrwürdige Senis?«, fragte er stotternd.
    Die Kariwa starrte auf das Grün in ihren Fingern, dann schüttelte sie den Kopf. »Schlangenkraut. Hilfreich, doch nicht für mein Leiden.«
    »Was ist dein …?«, begann Awin, aber Senis schnitt ihm das Wort ab: »Sie sind nicht deine Feinde, nicht alle. Nein, ich glaube, den meisten seid ihr gleichgültig«, murmelte sie.
    »Wie? Ich meine, wer?«, fragte Awin verdutzt. Immer noch fraßen rote Sonnenstrahlen das Blau des Himmels. Es schien nicht dunkler geworden zu sein.
    »Der Erdkreis ist weit, junger Hakul, weiter, als dein Pferd je laufen könnte. Warum musste das, was ihr Heolin nennt, ausgerechnet dort verloren gehen, wo es verloren gegangen

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