Der Sohn des Sehers 01 - Nomade
mürrisch.
»Nicht viele Städte gibt es, die der Feind erreichen kann, Bale«, erwiderte der Yaman scharf. Curru hob die Hand. »Ich verstehe den Einwand, denn Traumbilder sind meist unscharf, und der wache Geist muss prüfen, was der Schlaf ihm zeigte. Vier Städte sind es, die in Frage kommen. Da ist Budingar jenseits der Slahan, dann die Totenstadt Gyrn bei der Hochebene Edhawa, Scha-Adu hinter den Stromschnellen und natürlich Serkesch, unsere alte Feindin im Süden.«
»Eben, vier Möglichkeiten«, brummte Bale, der die Widerworte offenbar nicht lassen konnte.
»Nur zwei«, entgegnete Curru, »oder kennst du diese Orte nicht? Die Mauern von Scha-Adu sind aus Holz und dem roten Stein der Hochebene. Gyrn liegt auf einer Felsnadel hoch über dem Fluss und hat gar keine Wälle. Nur die Mauern von Budingar und Serkesch sind aus Lehmziegeln gebaut. Ja, ich bin eigentlich sicher, dass er nach Serkesch will, denn ich sah
im Traum das grüne Tor, dass die Akkesch der Göttin Hirth geweiht haben.«
»Und warum sollen wir uns dann aufteilen?«, fragte Bale störrisch.
Curru setzte zu einer scharfen Antwort an, aber dann schüttelte er den Kopf. »Du bist ein dummer Mann, Bale von den Pferden. Träume sind unsicher und vieldeutig. Vieles spricht dafür, dass er nach Serkesch will, aber was, wenn die Weberin mich getäuscht hat, wie es eben leider vorkommt? Oder wenn der Feind, der nach Serkesch wollte, seine Meinung ändert? Oder wenn die beiden Männer, die wir verfolgen, sich trennen?«
»Genug davon«, rief der Yaman. »Vier von uns werden nach Westen reiten, zum Dhanis. Finden sie dort keine Spur des Feindes, werden sie dem Strom flussabwärts folgen. Es gibt nicht viele Stellen, an denen ein Reiter ans andere Ufer gelangen kann. Tuge, mein Freund, du wirst diese Männer führen. Wenn es sein muss, den ganzen Weg bis nach Serkesch. Wer weiß, vielleicht begegnen wir uns dort wieder.«
Der Bogner wirkte überrascht, dass er für diese Aufgabe ausgewählt worden war, aber dann nickte er und fragte nur: »Wer wird mich begleiten?«
»Nimm Meryak und Malde, denn sie sind erfahren, und deinen Sohn Karak von den Jungkriegern, denn er ist verständig und wird dir keinen Ärger machen. Seid wachsam, denn auch wenn Curru sagt, dass der Feind nach Serkesch will, müssen wir mit allem rechnen. Dieser Mann ist ein gefährlicher Gegner.«
Die Sache war entschieden, auch wenn Bale einige Widerworte gab. Malde war sein Ältester, und er wollte nicht einsehen, dass sie nicht weiter zusammen reiten konnten. Awin wartete ungeduldig auf das Ende der Versammlung. Er wollte Curru zur Rede stellen. Er war fassungslos, dass sein Meister den Traum als seinen eigenen ausgegeben hatte, und fühlte sich, als hätte
man ihn bestohlen. Curru würde eine sehr gute Erklärung für seine Handlungsweise brauchen. Doch vorerst war der Seher beschäftigt, und auch Awin musste sich um seinen Falben kümmern. Drei Stunden Ruhe gönnte der Yaman seinen Kriegern und den Pferden, und er ließ ein Feuer anfachen, ein gutes Stück von den Frauen entfernt. Auch verbot er seinen Kriegern, vor allem aber seinem Sohn Ebu, die Kariwa aufzusuchen.
»Was hat sie zu dir gesagt?«, fragte Ech seinen Bruder halblaut am Feuer.
»Wer?«, fragte Ebu verdrossen zurück.
»Die junge Kariwa.«
»Gar nichts hat sie gesagt«, lautete die Antwort. Dann stand Ebu auf und ging in die Dunkelheit davon.
Ech zwinkerte Awin zu. »Es kommt nicht oft vor, dass eine Frau meinem Bruder so kühl begegnet.«
»Vielleicht stimmt ja, was man über sie sagt«, warf Tauru, der ältere Sohn des Bogners, ein. »Es heißt nämlich, diese Nordmenschen bestünden zur Hälfte aus Eis.«
»Diese bestimmt«, meinte Karak, sein jüngerer Bruder, der nachdenklich ins Feuer starrte. Er schien nicht recht bei der Sache zu sein.
»Keine Bange, Karak, wir sehen uns bald wieder«, meinte Tauru, der die Gedanken des Jüngeren wohl richtig erriet. »Vielleicht hast du ja Glück, und ihr erwischt den Verfluchten noch vor uns.«
»Aber Curru hat gesagt, er geht nach Serkesch«, meinte Karak enttäuscht.
»Der Alte hat heute Mittag noch gesagt, der Feind wäre hier«, versuchte Ech ihn zu trösten.
»Und der Alte weiß stets, was er sagt«, meinte Curru trocken, der unbemerkt hinter sie getreten war.
Awin bemerkte, wie die anderen jungen Männer vor Ehrfurcht
erstarrten. Es mochte sein, dass sie gelegentlich über den Seher spotteten, jedoch hatten sie alle Angst vor ihm. Ein Seher konnte die
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