Der Sohn des Sehers 01 - Nomade
Wollte sie das Böse von sich fernhalten, wo sie doch selbst das Böse war?
»Wie ich sehe, hast du den Geschichten aufmerksam gelauscht, Awin, Kawets Sohn. Und du bist klug. Es ist wirklich schade, dass dir die Begabung zum Seher fehlt.«
»Und der Traum, mein Traum?«, entgegnete Awin wütend.
»Der Traum, ja. Wie ich schon sagte, der Yaman hat große Zweifel an dir und deiner angeblichen Berufung. Kannst du ihm das verdenken? Dein eigener Vater war es, der sagte, dass du auch ein Seher sein wirst, aber sonst niemand. Wir alle wissen doch, dass die Väter für ihre Söhne oft mehr wollen, als gut für sie ist. Nun stell dir vor, wir erführen, dass der Feind doch nicht nach Serkesch gegangen ist - was dann? Nein, es
ist besser, ich nehme dann diesen Fehler auf mich. Ich bin alt und habe gelernt, für die Irrtümer anderer meinen Kopf hinzuhalten.«
»Und wenn es kein Irrtum ist?«
»Dann, junger Seher, werde ich dem Yaman erzählen, dass du es warst, der diesen Traum von Tengwil empfangen hat. Oder glaubst du etwa, ich wollte diesen Ruhm für mich beanspruchen?«
»Nein, Meister«, sagte Awin leise, obwohl es genau das war, was er vermutet hatte.
»Na, siehst du? Und jetzt lass uns zurück zum Feuer gehen und nicht mehr über diese Angelegenheit sprechen. Und erwähne vor allem nicht, dass vielleicht die Slahan selbst hinter diesem Raub stecken könnte.«
Das konnte Awin leicht versprechen, schließlich glaubte er es selbst nicht. Als sie zum Wasserloch gingen, kamen ihnen zwei Menschen entgegen. Die Dämmerung war schon weit fortgeschritten, aber Awin erkannte trotzdem die breitschultrige Gestalt des Yamans und die unverkennbaren buckligen Umrisse der alten Kariwa.
»Ah, Curru, wir haben dich gesucht«, rief der Yaman.
»Mich?«, fragte der Alte.
»Den Seher«, bestätigte Senis mit einem eigentümlichen Lachen.
»Ich will dich bei dieser Beratung dabeihaben, alter Freund, denn hier geht es um Dinge, über die ein Yaman nicht viel weiß.«
»Ihr müsst wissen, dass nicht nur die Hakul versuchen, den Verlauf des Schicksalsfadens zu erkennen«, begann Senis ohne weitere Umschweife. »Auch ich habe heute versucht, den Willen der Götter zu erforschen, und bin zu dem Schluss gekommen, dass diese Angelegenheit auch uns, meine Ahntochter und mich, betrifft.«
»Euch? Ihr seid hier fremd«, entgegnete Curru kühl.
»Nun, da hast du Recht, Curru von den Hakul«, gab Senis zu. »Ich gedachte auch nicht, mich in eure Angelegenheit einzumischen, denn ich habe meine eigenen Dinge zu besorgen. Doch habe ich die Knochen gefragt, und sie sind anderer Meinung.«
»Knochen?«, schnappte Curru. Es war schwer, die Verachtung in seiner Stimme zu überhören.
»Ich hätte sie nicht gefragt, wenn mich nicht schon seit gestern ein Gefühl plagte, ein Gefühl, das ich nicht fassen kann«, fuhr Senis unbeeindruckt fort. »Es ist, als sei etwas erwacht, das sehr lange geschlafen hat. Etwas, das ich kenne, anders, vielleicht sogar stärker - ach, ihr müsst einer alten Frau verzeihen, ich finde einfach nicht die richtigen Worte, es zu beschreiben.«
Awin dachte an das, was er am Abend gesehen hatte, die kleinen Knochen, die die Alte auf den Boden geworfen hatte. Sollte so etwas Lebloses wie ein paar Stückchen Gebein etwas über das Schicksal offenbaren können?
»Aber was hat das mit uns zu tun?«, fragte Curru.
»Ich bin für so eine Jagd, wie ihr sie unternehmt, sicher zu alt, ihr Krieger, aber meine Ahntochter ist jung und stark. Ihr solltet sie mitnehmen.«
»Das Mädchen?«, entfuhr es Curru, und es klang ehrlich entsetzt.
Auch Yaman Aryak war mehr als erstaunt. »Du willst, dass wir ein Weib mit auf diesen gefährlichen Ritt nehmen?«, fragte er.
»Die Knochen wollen es«, lautete die schlichte Antwort.
»Nun, ich weiß nicht, welches Spiel du hier spielst, alte Frau«, sagte Curru kalt, »aber sei dir sicher, dass wir eure Hilfe weder brauchen noch wollen.«
»Ist das die Meinung des Sehers?«, fragte Senis ruhig.
Es war dunkel, aber Awin hatte für einen Augenblick den Eindruck, dass sie ihn und nicht seinen Meister ansah.
»Das ist sie!«, erklärte Curru bestimmt. »Wirklich, Yaman, ich verstehe nicht, warum du dich mit diesem Weib abgibst.«
»Sie scheint mir nicht ohne Weisheit zu sein, alter Freund«, lautete die ruhige Antwort.
»Und ich? Bin ich vielleicht ohne Weisheit?«, giftete Curru.
Awin verstand nicht, was ihn so aufbrachte. Natürlich war der Vorschlag der Alten abwegig. Aber das war
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