Der Sohn des Sehers 01 - Nomade
der sie die ganze Zeit vom inneren Tor aus misstrauisch beobachtet hatte. Die Ebene, durch die sie der Eisenstraße folgten, wurde Naqadh, die Karge, genannt. Sie war eine schier endlose trockene Fläche, durchbrochen von verwitterten Felsgraten und tückischen Bodenspalten. Es war ein trostloses Land, und nur gelegentlich wagte sich ein Büschel gelben Grases durch den steinharten Boden, und hier und da zeigte sich ein dorniger Busch. Awin lernte die Vorteile der Straße zu schätzen. Der Weg war breit ausgetreten, eben und fest, und sie kamen gut voran. Seweti, die Tänzerin, begleitete sie oder kam ihnen entgegen, wie es ihr gerade gefiel. Die Hakul verfluchten sie, denn sie trieb ihnen den Staub in die Augen, aber sie war ihnen dennoch lieber als ihre Geschwisterwinde, die sie sonst zu quälen pflegten. Sie legten eine erste Rast ein, als die Festung nicht mehr zu sehen war, und Tuwin kümmerte sich um Marwis Verletzung. Sie hatte sich entzündet, aber der Junge behauptete, die fremden Kräuter würden ihm schon Linderung verschaffen.
»Eine seltsame Wunde für einen Sturz vom Pferd«, meinte Harbod, der Tuwin zusah, als er den Verband wechselte.
Tuwin gab ihm keine Antwort. Marwi war der Einzige, der im Sattel bleiben durfte, als sie später wieder abstiegen und ihre Pferde führten. Mewe verließ von Zeit zu Zeit den Sger und ritt weit hinaus in die Ebene, aber immer kehrte er mit einem Kopfschütteln zurück. Curru schwieg dazu, und auch sonst sprach niemand darüber, auch wenn inzwischen sicher alle dachten, dass der Feind einen anderen Weg genommen haben musste. Bis zum Abend ging es ohne Rast weiter. Die Sonne war bereits untergegangen, als Yaman Aryak sie endlich lagern ließ. Sie mussten Marwi vom Pferd heben, denn der junge Krieger wurde vom Fieber geschüttelt.
»Wundbrand«, stellte Harbod trocken fest, als Tuwin den Verband öffnete.
»Sieht es schlimm aus, Meister Tuwin?«, fragte Marwi flüsternd.
Der Schmied starrte lange auf die Wunde, dann sagte er zu Awin: »Hol die Kariwa.«
Ebu und Eri standen ihm im Weg. Er fing die feindseligen Blick der beiden auf, aber sie blieben stumm und machten ihm Platz.
»Ich bin keine Heilerin«, erklärte Merege ruhig, als Awin sein Anliegen vorgetragen hatte.
»Kannst du es dir nicht wenigstens ansehen?«, bat er.
»Wem soll das nützen?«, fragte sie kühl.
Ihre Kälte überraschte ihn. »Es kann aber auch nicht schaden«, entgegnete er.
Mit einem gleichmütigen Achselzucken gab sie nach.
»Nun?«, fragte Tuwin, als Merege neben dem fiebernden Marwi kniete und die entzündete Wunde betrachtete.
»Ich habe es dem jungen Seher schon gesagt, ich vermag ihn nicht zu heilen.«
»Kannst du nicht - oder willst du nicht?«, zischte Ebu wütend. »Jeder hier weiß, dass du Zauberkräfte hast, Hexe!«
Merege erhob sich und sah Ebu aus schmalen Augen so lange an, bis er den Blick senkte, dann ging sie ohne ein Wort davon. Yaman Aryak gab Awin einen Wink, ihr zu folgen. Er fand sie bei ihrem Pferd. »Es tut mir leid, was Ebu gesagt hat«, begann er.
Merege streichelte ihren Fuchs und antwortete nicht.
»Und du kannst wirklich nichts für ihn tun?«, fragte Awin.
»Senis wüsste vielleicht ein Mittel, denn sie hat in ihrem Leben viel gesehen und viel erfahren. Aber ich bin nicht sie, und sie ist nicht hier«, antwortete Merege.
»Wir hätten sie am Rotwasser fragen sollen, aber da sah die Wunde noch gut aus«, murmelte Awin.
Merege strich über die Flanke des Fuchses. Dann meinte sie: »Frag sie, wenn du ihr das nächste Mal begegnest, junger Seher.«
Was für eine seltsame Bemerkung. Oder würde Senis plötzlich irgendwo hier aus dem Boden wachsen? War das möglich? Würde sie mit ihrem Karren irgendwo an dieser Straße auf sie warten? Awin hielt das nicht für ausgeschlossen. »Aber wann wird das sein, Merege?«, fragte er.
»Das kann ich dir nicht sagen, junger Seher«, lautete die Antwort.
Awin seufzte. Wenn sie Marwi retten wollte, müsste die alte Kariwa sich schon sehr beeilen. Er drehte sich um und ging zu den anderen zurück. Die Männer sahen ihn erwartungsvoll an. Nur in Currus und Ebus Miene las er so etwas wie Geringschätzung. Vermutlich hatten sie erwartet, dass er nichts erreichen würde, und sahen sich jetzt, als er stumm den Kopf schüttelte, bestätigt.
»Ich weiß, dass wir sie mitnehmen müssen, weil du dein Wort gegeben hast, Aryak, aber ich kann nicht sehen, was sie uns nützen soll«, meinte Curru mürrisch. »Eher sehe ich,
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