Der Sohn des Sehers 02 - Lichtträger
Der Dhanegedh wird in drei Tagen wieder zusammentreten, wenn es gilt, Eri auf den Schild zu heben.«
»Drei Tage? Dann könnte es zu spät sein!«, rief Awin aufgebracht.
Der alte Seher zuckte mit den Achseln. »Es sind alte Gesetze, Awin, und ich gedenke, sie zu achten. Darin unterscheiden wir uns vielleicht.«
Die böse Anspielung des Alten ließ Awin erbleichen. »Was willst du damit sagen, Curru?«, presste er hervor.
»Du hast deinen Klan verlassen, Awin von den Schwarzen Dornen. Es kommt zwar vor, dass sich Sippen von großen Klans abspalten, doch wenn sie das ohne den Segen ihres Yamans tun, gilt es unter allen Stämmen des Staublandes als Verrat. Wusstest du das etwa nicht? Oder habe ich etwas versäumt, und du hattest Eris Segen für diesen Schritt, Awin?«
»Aber du hast mir doch dazu geraten …«
»Ich? Du musst dich verhört haben, mein Junge. Du hast mich gefragt, wie du dir Gehör im Rat verschaffen kannst, und das habe ich dir gesagt. Nach den Folgen deiner Entscheidung hast du mich nicht gefragt. Ich nahm an, sie seien dir bewusst. Und ich habe dir sicher nie gesagt, dass du Eri verraten sollst.«
Awins Hand fuhr zum Gürtel. Dieses Mal hatte er den Dolch nicht im Zelt gelassen.
Curru lachte geringschätzig. »Was versuchst du hier? Willst du nicht nur ein Verräter, sondern auch ein Mörder sein?«
Der Dolch war schon einen Finger breit aus der Scheide gefahren, aber da bemerkte Awin eine Bewegung hinter den Tüchern, die diesen Teil des Heredhanzeltes vom nächsten trennten. Sie waren nicht allein. Dennoch: Der faltige Hals des Alten war ein lohnendes Ziel. Wenn er schnell genug war, würde Curru tot am Boden liegen, bevor seine Krieger bei ihm waren. Die Hand an seiner Waffe verlangte danach, und der Dolch selbst schrie nach Currus Blut. Awin versuchte, sich zu beruhigen, seinen brennenden Zorn in kalte Wut umzuwandeln.
Er biss sich auf die Lippen, dann schob er die Klinge wieder ganz zurück in die Scheide. Es würde seiner Schwester nicht helfen, wenn er Curru umbrachte und dabei starb. Es gab andere Möglichkeiten. Awin zwang sich zu einem Lächeln. »Ich werde dir nicht den Gefallen tun, mich hier töten zu lassen, Curru. Und sag, weiß Merege schon, welche großen Pläne du mit dem Lichtstein verfolgst?«
Zu Awins Überraschung lächelte nun auch Curru. »Sie weiß es, Awin, und sie wird sich in Geduld üben, denn sie wird den Stein in einigen Wochen in der Hand halten. Das habe ich ihr versprochen.«
»Und sie hat dir geglaubt?«, entfuhr es Awin.
Curru lächelte noch breiter. »Ich habe sie noch nie belogen, Awin, kannst du das auch von dir behaupten? Hast du ihr nicht versprochen, den Heolin nie aus der Hand zu geben?«
Awins Hand krampfte sich um den Dolchgriff. Wie konnte der Alte die Wahrheit nur so verdrehen - und wie hatte er selbst nur so dumm sein können, Curru zu vertrauen?
»Ich glaube dir kein Wort«, behauptete Awin.
Curru lachte. »Ich kenne dich, Awin, Kawets Sohn, und ich sehe doch, dass du nun begriffen hast, wie vollständig mein Sieg ist.«
Ein leises Stöhnen antwortete auf Currus Lachen. »Hörst du das?«, fragte der alte Seher. »Es sind die beiden Söhne Horkets. Ich glaube nicht, dass sie den nächsten Morgen erleben werden. Dieser Isgi verfügte wirklich über eine abscheuliche Begabung für die Kunst des Giftmischens.« Bei diesen Worten sah Curru Awin so unbefangen ins Gesicht, als würden die beiden wirklich an Isgis Gift sterben - und nicht an dem, was Curru ihnen gereicht hatte.
Mit einem Mal packte Awin das Grauen vor seinem ehemaligen Meister. Curru und Egwa hatten ihm und Gunwa über Jahre
Obdach gewährt und selbst in Zeiten der Not das karge Essen mit ihnen geteilt. Ihr Zelt war niemals ein warmes, glückliches Heim gewesen, und Curru und Egwa war es wohl einfach nicht bestimmt gewesen, liebevolle Eltern zu sein - aber sie hatten alles gegeben, was ihnen möglich war. Und jetzt war Egwa tot, und Curru? Schon auf dem Ritt nach Serkesch hatten sie sich entzweit, aber jetzt? Er behandelte Awin wie einen Fremden, ja, wie einen Feind, und Gunwas Schicksal schien den Alten völlig kaltzulassen. Gunwa, die, als sie klein gewesen war, auf Currus Schoß gesessen hatte, seinen Geschichten gelauscht und mit seinem geflochtenen Bart gespielt hatte, bis er lächelte. Das schien alles vergessen. Curru log und verbog die Wahrheit mit solcher Überzeugungskraft, als würde er seine Lügen selbst glauben. Vielleicht tut er das ja , dachte Awin.
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