Der Sohn des Sehers 02 - Lichtträger
Vielleicht glaubt er all das, was er mir erzählt, wirklich selbst. Vielleicht ist er wahnsinnig. Wenigstens schienen ihn weder Gewissen noch Reue zu plagen. Er hatte betrogen, um Eri auf den Schild zu bringen, und nun war er dabei, für dieses Ziel auch zu morden, denn wenn die beiden Söhne Horkets tot waren, dann waren die gefährlichsten Anwärter auf den Heredhanschild aus dem Weg geräumt. Aber da war noch etwas, das Awin mit einem Mal zutiefst beunruhigte. Curru gab sich nicht viel Mühe, ihn auf seine Seite zu ziehen. Awin begriff plötzlich und mit eisiger Klarheit, dass Curru seinen Tod beschlossen hatte.
Sie stritten noch eine Weile, doch Awin war an diesem Tag kein würdiger Gegner für Curru, weil er jetzt nicht mehr versuchte, wirklich etwas zu erreichen. Es war alles gesagt worden. Awin war nur noch ein Stachel im Fleisch des zukünftigen Heredhans. Er war drauf und dran, Curru zu fragen, auf welche Weise er ihn denn sterben lassen wolle, aber dann riss er sich zusammen. Er überhäufte Curru mit Vorwürfen und Anschuldigungen,
gab sich gekränkt und tat alles, um den Alten nicht merken zu lassen, dass er wusste, was er vorhatte. Und als er scheinbar wütend davonstürmte, war er in Wahrheit erleichtert, dass er noch am Leben war.
Er eilte zurück zu den Feuern des Sichelsee-Sgers. Viele Zelte waren schon verschwunden, und lange Züge von Reitern verließen das Lager in alle Richtungen, verabschiedet vom Krächzen der Krähen, die sich über die zurückgelassenen Abfallhaufen hermachten und um abgenagte Knochen stritten. Ein leichter Nieselregen mischte sich mit dem Qualm der Feuer, der dicht über dem Boden durch das Tal zog. Awin bemerkte einige feindselige Blicke, während er durch das Lager lief, und einmal war ihm, als hätte er das Wort »Verräter« gehört. Er schlug den Staubschal vors Gesicht und lief schneller. Yaman Werek und seine Männer waren schon fort, und Kluwes Zelt wirkte einsam, weil die Kriegszelte des Sperber-Klans, die es am Morgen noch umgeben hatten, nun fort waren. Awin musste überlegen, wem er noch trauen konnte. Wela und Tuge natürlich. Aber würde Tuge sich auch offen gegen Eri stellen? Er achtete die Gesetze, und Awin hatte den Klan verlassen. Tuge war ihm gegenüber zu nichts verpflichtet. Harmin? Es war schwer zu erkennen, was diesen Mann antrieb, aber er war ein Feind Currus, das war gut. Merege? Das war die große Frage. Awin konnte nicht glauben, dass sie sich wirklich auf einen Handel mit Curru eingelassen hatte. Zu seiner Erleichterung traf er die Kariwa am Lagerplatz. Sie saß mit Wela, Tuge und Harmin am Feuer. Es sah fast so aus, als würden sie ihn erwarten.
»Wie ist es gegangen, Awin?«, fragte Tuge leise.
Awin sah sich um. Sie waren unter sich. »Nicht gut, Tuge, gar nicht gut. Ich weiß jetzt, dass Curru den Lichtstein nicht hergeben wird, und er denkt gar nicht daran, Slahan zu verfolgen.«
»Das hätte ich dir vorher sagen können«, brummte Harmin.
»Er hat gesagt, dass er dir den Stein versprochen hat, Merege«, fuhr Awin fort.
»Das hat er, Awin«, erwiderte die Kariwa ruhig. Einzelne schwere Tropfen fielen vom Himmel und vergingen zischend in den Flammen.
»Er sagte auch, du habest das Angebot angenommen …«
Merege lächelte. »Weißt du, junger Seher, wir Wächter des Skroltors stehen an einer Mauer, die die Welt der Menschen von der der Daimonen trennt. Nur wer im Herzen wahrhaftig ist, kann dort bestehen. Die Lüge ist uns fremd. Curru dagegen ist ein Meister der Lügen und halben Wahrheiten. Eine Kariwa kann viel von ihm lernen, wenn es sein muss. Ich habe ihm also gesagt, dass ich den Stein in spätestens sechs Wochen in den Händen halten will. Das heißt aber nicht, dass ich so lange warten werde. Wenn du so willst, war es die Art Wahrheit, wie ich sie öfter von den Hakul gehört habe.«
Die Hakul am Feuer grinsten breit, selbst Wela. Awin hatte dagegen so eine Ahnung, wie schwer es Merege gefallen sein musste, auch nur den listigen Curru anzulügen.
»Was sagt eigentlich Eri zu der ganzen Sache?«, fragte Tuge.
»Nichts. Ich bin nicht einmal zu ihm vorgelassen worden«, berichtete Awin.
»Und was hast du jetzt vor, Awin von den Schwarzen Dornen?«, fragte Harmin.
Awin seufzte. »Ich denke, gleich, was ich tue, ich muss es schnell tun, denn Curru braucht mich nicht mehr, und es ist gut möglich, dass mir bald ein Unglück widerfährt. So wie auch du, Merege, in diesem Lager nicht mehr sicher bist.«
Merege nickte nur.
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