Der Sohn des Sehers 02 - Lichtträger
mir nicht wegen der Wölfe Sorgen machen müsste. Ich habe noch nie so viele auf einem Haufen gesehen.«
»Wer sagt, dass deine Krieger besser sind als unsere?«, beschwerte sich ein alter Krieger, den Awin im schwachen Schein
der Fackeln als den Ältesten des Ranken-Klans, einen Mann namens Blohetan, wiedererkannte.
»Wollt ihr am frühen Morgen schon streiten, Hakul?«, fragte Curru, der aus dem Yamanszelt heraustrat.
Harmin lachte leise. »Was gibt es Besseres, als mit einem belebenden Zwist den Tag zu beginnen?«
Awin wären da schon ein paar Dinge eingefallen, ein heißer Kräutersud zum Beispiel. Als hätte er seine Gedanken gelesen, drückte ihm Tuge einen Becher in die Hand. »Trink das, mein Junge, und genieße es. Wer weiß, was kommen mag?«
»Ich denke, der Träger des Lichtsteins sollte es wissen, ist er nicht ein Seher?«, fragte Blohetan.
Bevor Awin verlegen eine Antwort stottern konnte, ergriff Curru die Gelegenheit, sich ins beste Licht zu rücken: »Warum fragst du den Schüler, wenn du auch den Meister fragen kannst, Ältester? Die Zeiten sind dunkel, und die Zeichen sind stark. Der schwarze Wolf schleicht um das Lager und kündigt einen langen Winter an. Hörst du ihn nicht heulen? Doch die Sonne lässt uns am Morgen die roten Fäden der Schicksalsweberin am Himmel sehen. Große Tage stehen uns bevor, Blohetan, große Tage für tapfere Männer. Blut wird vergossen, doch ob es das unsere oder das unserer Feinde ist, das verhüllt Tengwil noch vor uns.«
Awin seufzte. Dass der Winter lang und hart war, war im kältesten Frostmond seit Menschengedenken eine offensichtliche Tatsache, und dass Blut fließen würde, war bei einem Kriegszug der Hakul zu erwarten. Man brauchte keine Sehergabe, um das vorherzusagen. Aber Curru hatte sein Ziel erreicht. Seine Zuhörer waren beeindruckt. Außerdem hatte er nebenbei noch klargemacht, dass er der bessere der beiden Seher war. Wenigstens in seinen eigenen Augen.
»Macht Platz, Platz für Yaman Uredh und seine Yamanoi«,
forderte eine schneidende Stimme. Ein weiterer Trupp Reiter drängte sich zwischen den Zelten hindurch. Pferde scheuten, Männer fluchten, und dazwischen sprangen erschrocken einige Ziegen meckernd davon.
»Sieh an, Uredh, mit dir hätte ich nicht gerechnet«, rief Curru.
»Du glaubst doch nicht, dass wir so etwas Großes eurem kleinen Klan anvertrauen, Curru von den Schwarzen Bergen?«, entgegnete Uredh lautstark.
Awin spürte die Feindseligkeit, die sich in die Reinheit der Morgenstunde mischte. Auch er war überrascht, dass Uredh sich ihrem Zug anschließen wollte. War er nicht an Strydhs Felsen noch davon überzeugt gewesen, es sei besser, den Lichtstein am Sichelsee zu behalten? Awin sattelte seinen Braunen. Sorgfältig prüfte er das Zaumzeug und befestigte Decke, Schild und Wasserbeutel am Sattel. Am Horizont zeichnete sich das erste Rot des Morgens ab, und das Geheul der Wölfe in der Ferne kündigte einen weiteren kalten Tag an. Mehr als vierzig Männer waren es schließlich, die sich zwischen den Rundzelten sammelten, vierzig Männer - und zwei Frauen.
»Ich habe ja gehört, dass diese Kariwa Zauberkräfte besitzen soll«, brummte Uredh missmutig, »aber warum, um Marekets willen, sollen wir die Schmiedin mitschleppen?«
»Ich entscheide, wer in meinem Sger reitet und wer nicht, Yaman Uredh«, erklärte Eri knapp.
»Bist du sicher, Yaman Eri?«, lautete die spöttische Antwort.
Doch dann blies Tuge mit seinem Horn das Zeichen zum Aufbruch, und die Reiter bahnten sich ihren Weg durch die engen Gassen des Lagers. Awin gab seinem Braunen die Fersen und reihte sich in den Zug ein. Bis auf den Hufschlag und das Schnauben der Pferde war es still, dabei waren jetzt viele Hakul auf den Beinen. Am Durchlass, den sie in ihrem notdürftigen
Wall aus Wagen gelassen hatten, wurden sie noch einmal aufgehalten. Yaman Brediak war dort, und er opferte den Hütern und erflehte den Segen der Götter für das Gelingen des Zuges. Sie setzten über den Graben. Über Nacht war das Lager vor dem Wall noch weiter gewachsen. Es drängten sich dort jetzt beinahe so viele Zelte wie auf der Halbinsel. Viele Hakul beobachteten ihren Auszug, sahen ihnen nach, und wohl jeder stellte sich die Frage, ob die, die ausritten, jene, die blieben, je wiedersehen würden.
Bei Sonnenaufgang hielten sie zum ersten Mal an, weil Uredh und Eri, die beiden Yamane im Zug, sich stritten. »Wir sind der Klan des Heolins, Uredh«, rief Eri, »uns gebührt die
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