Der Sohn des Sehers 02 - Lichtträger
viel gesehen, dass die Weberin der Meinung war, es sei genug für ein Leben? Oder hatte er die Götter beleidigt? Er wusste es nicht und konnte nur hoffen, dass diese Blindheit nicht andauern würde. Es gab auch niemanden, mit dem er darüber sprechen konnte. Merege erklärte stets, dass sie davon nichts verstand, und seinen alten Lehrer Curru würde er bestimmt nicht fragen. Die uralte Senis würde vielleicht eine Antwort wissen. Doch wie sollte er sie erreichen, wenn er nicht auf Reisen gehen konnte? Mereges rätselhafte Ahnmutter war weit im Süden, auf der Suche nach einer Wurzel, die ihr unendlich langes Leben beenden sollte. Hatte sie sie etwa gefunden? War es vielleicht sogar so, dass er nur mit Senis’ Hilfe auf die Reise hatte gehen können? Seine Gabe war doch erst nach der Begegnung mit ihr in Erscheinung getreten. Awin verspürte plötzlich keinen Hunger mehr. Er stellte seine Schale zur Seite. Jemand hatte ihn etwas gefragt. »Wie?«, murmelte er.
Tuge grinste ihn freundlich an. »Ich habe gefragt, ob du weißt, wohin Slahan gehen wird.«
»Auch ich habe kein Zeichen gesehen, Meister Tuge«, antwortete er zerstreut und vergaß, dass er den Bogner nicht mehr Meister nennen musste, seit er selbst als solcher galt.
»Sie folgt dem Fluss stromabwärts«, sagte Merege. Awin hatte sie gar nicht hereinkommen sehen.
»Dem Dhurys? Bist du sicher, Kariwa?«, fragte Tuge.
»Die Wölfe haben es gesagt«, bekräftigte Merege ihre Behauptung. »Sie sammeln sich in großer Zahl, und sie sind unruhig, weil auch sie den Sturm fürchten. Sie sagen, dass die Göttin nach Nordosten ging, am Fluss verharrte und ihm jetzt stromabwärts folgt. Und auf ihrem Weg verheert sie das Land, tötet Mensch und Tier.«
»Und das haben dir die Wölfe erzählt?«, fragte der junge Mabak ehrfürchtig.
»Unsinn«, knurrte Curru unwillig, als Merege nickte. »Diese … Frau ist keine Seherin.«
Awin wunderte sich, dass sein alter Lehrer die Gelegenheit ausließ, sie als Hexe zu bezeichnen. Sie war vielleicht keine Seherin, aber sie verstand sich gut auf Tiere, das war offensichtlich. »Haben die Wölfe auch gesagt, was sie sucht, oder wo sie hinwill?«, fragte er.
Merege schüttelte den Kopf. »Auch die Wölfe wissen nicht alles. Ich denke aber, sie will weiter nach Osten, doch hindert sie der Fluss. Also wird sie eine Stelle suchen, wo sie ihn überqueren kann.«
»Den Dhurys? Da kann sie lange suchen«, sagte Curru mit einem verächtlichen Lachen. »Da müsste sie schon hinunterziehen bis zur Wüste Dhaud und …« Sein Lachen erstarb.
Betroffen schwiegen die Versammelten. Wenn Slahan den Strom Dhurys hinabzog, dann führte ihr Weg sie noch einmal mitten durch die Weiden der Hakul.
»Und wer oder was, Curru, sollte sie daran hindern?«, fragte Awin ernst.
Am nächsten Morgen erwachte Awin vom Tritt vieler Hufe auf hart gefrorenem Boden. Es war noch dunkel, und die ruhigen Atemzüge der schlafenden Kinder schwebten durch das Zelt.
Das kleine Herdfeuer war fast ganz heruntergebrannt. In seinem schwachen Schein sah Awin den Bogner, der seine Waffe prüfte. Er nickte ihm zu. »Ich habe dir auch einen Bogen bereitgelegt, Seher«, brummte er. »Ich hoffe, du gibst besser darauf Acht als auf den letzten.« Awin setzte sich auf. Hinter dem Vorhang, der die Schlafplätze der Männer und Frauen trennte, wurde geflüstert. Dann steckte Wela ihren Kopf heraus. »Dort steht Wasser, falls du dich waschen willst, Awin«, sagte sie leise.
Während Awin sich wusch, hörte er gedämpfte Unterhaltungen vor dem Zelt. Es waren die Stimmen vieler Männer. Fernes Wolfsgeheul begrüßte den Morgen. Als Awin hinaustrat, wurde er bereits erwartet.
»Ich grüße dich, Lichtträger«, sagte Harmin. »Wir sind hier, um dir zu folgen.«
Awin fröstelte. Er schätzte die Zahl der Männer auf über dreißig, und das waren mehr, als er erwartet, aber weniger, als er gehofft hatte. Drei Dutzend Krieger gegen eine Göttin? War das nicht lächerlich? Aber dann wurde ihm klar, dass es nicht auf die Zahl ihrer Speere ankam; ihre Entschlossenheit würde den Ausschlag geben. Und der junge Mabak freute sich über die geringe Anzahl, hieß das für ihn doch, dass genug Krieger im Lager blieben und er den Zug begleiten konnte. Awin sah ihn sich eilig rüsten.
»Ich grüße dich, Harmin«, erwiderte Awin endlich den Gruß. »Sind all diese Männer aus deinem Klan?«
»Nicht alle, aber die Besten«, lautete die Antwort. »Ich hätte dir mehr gebracht, wenn ich
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