Der Sohn des Sehers 03 - Renegat
blieb stehen und sah sich um. Türme verloren sich in der Ferne. »Ist hier jemand?«, rief er. Aber er bekam keine Antwort. Seine Sinne spielten ihm offenbar einen Streich. Dann wurde Awin klar, was die erste Stimme gesagt hatte. Die Seher wussten, dass der Sonnengott Edhil keine Sterblichen auf der Ebene des Geistes duldete. Daher konnte diese Reise nur nachts angetreten werden. Die einen sagten, das grelle Licht würde die Kerze überstrahlen, die dem Geist des Sehers den Rückweg zeigte, andere behaupteten, die Hitze der Sonne würde jeden verbrennen, der sich am Tage noch auf dieser Ebene aufhielt. Awin biss die Zähne zusammen und lief schneller. Hier war es weder hell noch dunkel. Dämmriges Zwielicht, fast wie beim Morgengrauen, beherrschte die Wüste, und es war unmöglich zu sagen, wann hier der Tag anbrechen würde. Awin erkannte bald, dass der hohe Turm sich auch in seiner Form von den anderen unterschied. Er schien nur im unteren Teil gerade aufzuragen, sich aber in seinem oberen Drittel stark zur Seite zu neigen. Awin hielt an, denn seine Füße schmerzten, und er brauchte eine Rast. Er musste schon viele Stunden unterwegs sein. Oder täuschte er sich da? Die Sonne war nicht aufgegangen, das Donnern des Sonnenwagens, das er bei einer seiner früheren Reisen vernommen hatte, blieb bislang aus. Aus der Ferne klang schwach ein leises Geräusch herüber, beinahe wieder wie das Knacken in brechendem Eis. Awin hielt nach dem Ursprung des Geräusches Ausschau. Eine Staubwolke stand
über der Ebene, und es schien, als seien die Türme dort, wo er herkam, verschwunden. Stöhnend setzte er seinen Marsch fort. Der Schmerz in den Füßen wurde schlimmer, aber er marschierte weiter, Stunde um Stunde. Er hatte noch nie gehört, dass ein Seher so lange auf der anderen Seite verweilt hätte. Außer jenen, die nie zurückgekehrt sind , sagte eine innere Stimme. Er überhörte sie und humpelte weiter voran.
Er sollte es erfahren , sagte plötzlich eine weibliche Stimme, die ihm bekannt vorkam. Das war nicht der erste Bote, und die Antwort wäre die gleiche wie beim letzten Mal , antwortete eine feste männliche Stimme. Aber die Frage ist eine andere , widersprach die erste. Awin reckte sich, aber die Stimmen waren verstummt. Er rief nach den Sprechern, bekam aber keine Antwort. Er schüttelte den Kopf und war sich bald sicher, diese sinnlosen Sätze nur geträumt zu haben. Er fühlte sich erschöpft und durstig. Wann hatte er zuletzt getrunken, wann gerastet? Offenbar konnte sein Geist weder ruhen noch schlafen, während er hier war. Er hielt an. Wo war er eigentlich? Er sammelte sich, denn er spürte, dass sein Geist begann, sich zu verwirren. Das durfte er nicht zulassen. Er war Awin, der Seher vom Klan der Schwarzen Dornen, und er war in das Reich des Todes gereist, um Merege zurückzuholen. Das sagte er sich immer wieder, während er weiterstapfte und versuchte, den Schmerz in seinen Füßen auszublenden.
Die Zahl der Türme, die vor ihm lagen, nahm jetzt ab, und sein Ziel schien bald zum Greifen nahe zu sein. Awin erkannte, dass es kein Turm war, sondern ein Tor - vielmehr ein zur Hälfte eingestürzter Torbogen, der sich in gewaltiger Höhe über die Ebene erhob. Es sah irgendwie falsch aus. Der Bogen stieg in kühnem Schwung auf, überstieg den Scheitelpunkt und brach dann jäh ab. Aber was hielt die gewaltigen Blöcke, aus denen er gemauert sein musste, dort oben? Awin lief weiter.
Er würde es vielleicht verstehen, wenn er dort war. Und vielleicht würde er auch Merege dort finden. Der Torbogen rückte langsam näher. Noch nie hatte Awin ein so großes Bauwerk gesehen. Es würde selbst den höchsten Turm von Pursu überragen, obwohl dieser auf einem gewaltigen Felsen erbaut war. Der Bogen war grau und wirkte uralt. Awin biss die Zähne zusammen und verdoppelte noch einmal seine Anstrengungen. Ihm war, als würde dort im Schatten jemand sitzen. Ein fernes Donnern drang an seine Ohren. Für einen kurzen Augenblick fürchtete er, der Sonnengott würde doch noch erscheinen und ihn verbrennen, aber dann begriff er, dass das Geräusch aus der Ebene hinter ihm kam. Er blickte über die Schulter zurück. Die Staubwolke, die hinter ihm die Türme verschlang, war bedrohlich angewachsen. Sie schien bereits die halbe Wüste verschluckt zu haben. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie auch den Torbogen erreichen würde. Awin war so gebannt von der schnell wachsenden Wolke, dass er stolperte, als er die erste Stufe
Weitere Kostenlose Bücher