Der Sohn des Sehers 03 - Renegat
deshalb haben wir dich gerufen. Uo will, dass du die Kariwa fortbringst, denn sie sitzt vor der Pforte, und dort gehört sie nicht hin.«
Awin musste sich anstrengen, um ihn zu verstehen, denn starker Wind war aufgekommen, er wehte den Staub der sterbenden Wüste heran. »Aber warum hat er sie dann mitgenommen?«, rief Awin über das Brausen des Sandes.
»Hat er das? Oder ist sie ihm gefolgt?«, erwiderte Uqib. Es klang beinahe höhnisch. »Nun? Entscheide dich, Seher. Willst du geben, was ich verlange, oder bleiben und zusehen, wie dieses Land vergeht?«
Der Wind zerrte an Awins Gewand. Wenn es keinen anderen Weg gab, würde er eben auf seine ohnehin nutzlos gewordene Gabe verzichten. »Ich gebe sie«, rief er.
»Dann geh über diese Schwelle, Wanderer. Du kannst auf der anderen Seite finden, was du suchst.«
Awin erwartete, dass er etwas spüren würde. Aber nichts geschah. In gebührendem Abstand lief er am Seelenverweser vorbei, auf die Schwelle des halben Torbogens zu. Doch plötzlich tauchte Uqib dicht vor ihm auf. Awin prallte erschrocken zurück. Der Seelenverweser beugte sich zu ihm herab und flüsterte: »Noch eines, Wanderer. Du wirst keinem Sterblichen berichten, was du gesehen und gehört hast. Du wirst keinem Menschen erzählen, was du getan hast, und auch, dass du mich getroffen hast, wird vor Deinesgleichen ungesagt bleiben.«
Awin nickte stumm. Die Kälte in Uqibs Nähe raubte ihm den Atem. Dann war die Gestalt plötzlich verschwunden. Awin stand auf der Schwelle. Vor ihm breitete sich eine endlose Ebene aus. Sie schien sich nicht im Geringsten von jener zu unterscheiden, die er gerade hinter sich lassen wollte, nur dass es dort keine Türme gab. Er spürte ein unheilvolles Knistern, das durch die Steine lief. Ein lautes Krachen ertönte und ein riesiger Felsbrocken löste sich aus dem Torbogen und fiel herab. Awin hob den Fuß, um die Schwelle zu überschreiten, aber wieder zögerte er. Was, wenn der Seelenverweser ihn getäuscht hatte, und er nun für immer in das Land des Todes ging? Über ihm zerbrach der Bogen. Awin biss die Zähne zusammen und trat hinüber.
Er stolperte, denn sein Fuß suchte eine Stufe, die dort nicht war. Verblüfft hielt er inne. Er stand im Schnee. Vor ihm ragte ein Berg in einen bleigrauen Himmel. Er drehte sich um. Das Tor, die Wüste, der Seelenverweser - das alles war fort. Stattdessen fand er sich am Hang eines felsigen Berges wieder. Schneefelder zogen sich über seine Flanken bis in eine geröllübersäte Ebene. Wo war er? War Merege hier irgendwo? Er rief nach ihr, aber er bekam keine Antwort. Er beschloss, sich einen Überblick zu verschaffen, und begann, den Berg nach oben zu klettern. Er fragte sich, was eben geschehen war. Hatte er wirklich seine Gabe verloren? Wie sollte er dann zurückfinden? Würde er einer jener Seher sein, die von der Reise des Geistes nicht zurückkehrten? Lag vielleicht auf der anderen Seite des Berges der Rand der Welt, über den er stürzen würde, um dann für alle Zeit durch das Nichts zu treiben, das die Welt umgab?
Er schafft es nicht , sagte eine leise Stimme. Ist denn überhaupt sicher, dass er noch lebt? , fragte eine zweite, weibliche Stimme. Sie klang hart. Ich sehe seinen Atem , antwortete eine dritte. Er
sollte bald zurückkehren, sonst entscheiden wir diese Frage ohne ihn , erklärte wieder die harte Stimme.
Awin blieb stehen und lauschte. Er war alleine am Berg. Wo kamen diese Stimmen her? Ihm war, als würde er sie immer noch sprechen hören, doch waren sie so leise, dass er sie nicht mehr verstand. Etwas an diesen Stimmen war ihm vertraut erschienen, aber er konnte sich nicht erinnern, woher. Erwarteten ihn die Sprecher vielleicht hinter der nächsten Felsengruppe? Er ging weiter, um nachzusehen. Aber da war niemand. Merege , dachte er. Ich bin hier, um Merege zu suchen. Das darf ich nicht vergessen. Trockene Gräser hatten Wurzeln im Geröll geschlagen. Es waren die ersten Pflanzen, die er sah, seit er sich hier befand, auch wenn er nicht wusste, wo dieses »hier« war. Er beschloss, das Gras als gutes Zeichen zu nehmen, und setzte seinen Aufstieg fort. Es wurde rasch kälter. Er kam nur langsam voran, denn das Geröll unter seinen wunden Füßen war tückisch, gab oft unter seinem Gewicht nach, und es war Kraft raubend, sich nach oben zu arbeiten. Er blieb von Zeit zu Zeit stehen, um sich umzusehen und nach Hinweisen Ausschau zu halten. Schwarze Büsche zeigten sich zwischen den Steinen. Sie trugen kein Blatt
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