Der Sohn des Sehers 03 - Renegat
und keine Blüte. Als Awin aufblickte, sah er, dass dichtes Gestrüpp dieses kahlen Buschwerks auf ihn wartete. Es hatte sich in die Flanke des Berges gekrallt, und die Zweige hatten sich ineinander verflochten, als müssten sie sich gegenseitig Halt geben. Oberhalb davon leuchteten weite Schneefelder. Awin hatte jegliches Zeitgefühl verloren, und die tiefe Müdigkeit, die der Anspannung am Tor gewichen war, kehrte bleischwer zurück. Er biss die Zähne zusammen und kletterte weiter.
Als Awin sich durch die schwarzen Gewächse kämpfte, setzten sie sich mit langen Dornen zur Wehr. Sie durchbohrten Kleidung und Haut, und bald blutete Awin aus vielen kleinen
Wunden. Aber er ließ sich nicht aufhalten. Irgendwann wuchs das Buschwerk spärlicher und Awins Fuß trat in weichen Schnee. Er zog Dornen aus seinen Beinen und Armen, noch während er weiterging. Nach einer Weile war ihm, als würde er ein leises Murmeln hören. Er folgte dem Geräusch und stieß auf einen kleinen Bach, eigentlich nur ein Rinnsal, das über die Steine ins Tal floss. Awin war sich nicht sicher, ob er durstig war oder nicht, aber er nahm einen Schluck kalten Wassers und wusch sich das getrocknete Blut ab. Mitten in der Bewegung hielt er inne. Er hörte Stimmen und hielt den Atem an. Die Stimmen kamen aus dem Rinnsal. Der Regen. Er holt sich noch den Tod , murmelte es. Niemand betritt den Kreis. Aber der Kreis ist gar nicht mehr zu erkennen. Lass mich wenigstens die Kerze entzünden. Awin lauschte, aber die Stimmen verebbten.
Regen? Hier gab es keinen Regen. Awin richtete sich auf. Er war die ganze Zeit nur vorangehastet und hatte sich lange nicht mehr umgesehen. Zu seiner Linken erhob sich der Berg, zu seiner Rechten zogen sich schwarze, zerklüftete Felsen bis zum Horizont hin, und vor ihm öffnete sich ein schmales Tal. Schnee deckte die Hänge, aber er taute zu vielen kleinen Rinnsalen, die ins Tal hinabsprangen und einen breiten Bach speisten. Awin folgte diesem Gewässer. Die Luft war klar und kühl, der Bach schlängelte sich durch den Talgrund, und dichtes Gras deckte den Boden. Einsam reckte ein knorriger Baum seine kahlen Äste in den Himmel. Awin ging langsam weiter. Wo war er nur? Und warum war er hier? Er blieb stehen. Es gab einen Grund. Awin sammelte sich. Er spürte, dass sich sein Geist hier verlieren konnte, also versuchte er, sich zusammenzureißen. Merege! Er wusste wieder, weshalb er aufgebrochen war: Merege. Daran hielt er sich fest, während er weiterwanderte.
Immerhin war es in diesem Hochtal viel besser als in der Wüste. Es wirkte friedlich, das Gras war rau, aber üppig, das
Wasser frisch. In gewisser Weise strahlte der Ort Ruhe und kühle Schönheit aus. Doch etwas fehlte Awin. Er brauchte eine Weile, um zu erkennen, was es war: Farben. Die Bäume streckten schwarze Äste in einen bleigrauen Himmel ohne Wolken, das Gras deckte den Boden, als sei es nur ein Schatten, und das Wasser floss farblos über blasse Steine. Hier gab es weder grüne Weiden noch blauen Himmel. Er hob seine zerkratzte Hand. Dunkelgraue Narben zogen sich über seine bleiche Haut. Also war selbst das Blut ohne Farbe. Er hastete weiter und merkte erst nach einer Weile, dass er auf einen Pfad gestoßen war, der sich das Tal hinabwand. Er folgte ihm. Die Felsen traten zurück, und dann bot sich ihm ein beeindruckendes Bild. Er stand über einer Bucht, die von steilen, schwarzen Felsen gesäumt war. Zu seinen Füßen schäumte ein graues Meer gegen eine weit geschwungene Küste. Ferner Rauch stand über den Bergen und zeichnete sich dunkel vor dem bleifarbenen Himmel ab. Der Pfad schwenkte nach links über einen schmalen Streifen Land zwischen Bergen und See. Ein seltsames Gefühl der Vorfreude erfüllte Awin. Er sah zwei hohe Steinsäulen, die sich über dem Pfad aneinanderlehnten. Er freute sich darauf, dieses Tor zu durchschreiten, auch wenn er den Grund nicht nennen konnte. Er fühlte sich leicht. Als er näher kam, sah er, dass die beiden Säulen nicht von Menschenhand behauen, sondern von der Natur in ihre Form gebracht worden waren. Sie rahmten den Pfad wie ein hohes, schmales Tor. Eine niedrige Mauer aus verwitterten Steinen strebte zu beiden Seiten fort. Auf der einen Seite endete sie im Meer, auf der anderen zog sie sich noch ein Stück einen Hang hinauf. Ihre Bruchsteine waren mit Moos bewachsen. Im Schatten der Säule kauerte eine schlanke Gestalt, den Kopf leicht an die Säule gelehnt, als würde sie am Stein lauschen.
»Merege!«, rief
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