Der Sohn des Tuchhändlers
der Stephanskirche gab es einen kleinen Durchgang, der durch ein hölzernes Tor nur versperrt, aber nicht verschlossen wurde. Ansonsten lagen die beiden Gotteshäuser so einträchtig nebeneinander, wie auch die Juden und Christen in der Stadt lange Zeit einträchtig Seite an Seite gelebt hatten. Mojzesz’ Haus lag fast genau gegenüber. Ich spähte vorsichtig über das Tor hinweg in die Gasse hinein. Die letzten paar Minuten waren wir weniger gelaufen als durch Höfe und Gärten und ein Netz kleiner Stichgassen geschlichen, in denen es beklemmend still gewesen war. Weder im alten Judenviertel vorn bei der Universität noch hier nach der durch den Universitätsbau vorgenommenen Umsiedlung der jüdischen Bevölkerung hatte es eine genaue Trennung zwischen den Religionen gegeben; die Wohngebiete gingen unmerklich ineinander über, und so wie die christliche Stephanskirche quasi einsam inmitten der Judengasse stand, so stand zum Teil noch in der Nähe des Weichseltores das eine oder andere von Juden bewohnte Hauszwischen seinen christlichen Nachbarn. Dennoch hatte das Gefühl der Beklommenheit mit jedem Schritt, den wir der Synagoge näher gekommen waren, zugenommen, als läge eine greifbare Angst ausschließlich auf den jüdischen Häusern, und diese Angst teilte sich einem mit, je tiefer man ins jüdische Viertel vordrang. Die Gasse war vollkommen menschenleer, und selbst der Teil des Markplatzes, den ich hinter ihrer Mündung auf den Platz hinaus sehen konnte, war ohne jegliches Leben. Der Lärm jedoch hielt unvermindert an.
Mein Herz hatte in den letzten Minuten Zeit gehabt, sich von der Rennerei zu erholen. Jetzt begann es wieder schneller zu schlagen. Der Schweiß lief mir in langen Bahnen am Körper hinab, wo er das Hemd noch nicht durchnässt und auf die Haut geklebt hatte. Ein leichter Windhauch fuhr durch die Gasse und ließ mich erschauern, obwohl die Luft warm war. Als ich mir durch die Haare fuhr, merkte ich nicht nur, dass ich meine Kopfbedeckung vergessen hatte, sondern dass meine Haare nass waren, als hätte ich den Kopf in einen Wassereimer gesteckt. Daniel verlor die Geduld und schob sich neben mich, um ebenfalls hinauszuspähen, während er sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn trocknete.
»Bei der Mündung zum Marktplatz stehen ja gar keine Wachen«, sagte er.
»Ja«, sagte ich.
»Haben sie sie abgezogen, als wir da hinten durch die Misthaufen krochen? Oder war unsere Vorsicht umsonst?«
»Keine Ahnung.«
»Warum haben sie die Bewachung jetzt schon aufgegeben? Wenn die Irren auf dem Platz das letzte bisschen von Julius Avellino vom Boden gekratzt haben, werden sie sich nach einer neuen Beschäftigung umsehen … und dann werden ihnen die Juden einfallen …«
Der Windhauch ließ ein dunkles Etwas mitten in der Gasse erzittern. Ich hatte es für eine tote Ratte gehalten, aber jetzt sahich, dass der Pelz zu dunkel und zu flauschig war und das Ding zu flach auf dem Boden lag.
»Vielleicht haben sie sie gar nicht bewacht «, sagte ich.
»Was soll das heißen?«
Ich wies auf das Ding in der Gasse. Daniel kniff die Augen zusammen.
»Was ist das denn?«, fragte er. Dann gab er sich selbst die Antwort. »Ein Barett. Mit Pelzbesatz. Als ob es nicht schwül genug wäre.«
»Gehen wir«, sagte ich. »Die Wachen sind weg.«
Ich stieß das Tor auf und trat auf die Gasse hinaus. Ein paar Schritte brachten mich zu dem pelzigen Ding auf dem Boden. Ich hob es auf. Daniel hatte Recht: Es war ein Barett. Mein Herz schlug nun nicht mehr schnell, sondern langsam und schwer und voller Furcht. Die letzten paar Augenblicke, in denen wir uns an der Synagoge und der Stephanskirche vorbeigeschlichen hatten und die Hektik seit unserem Aufbruch von zu Hause einer gezwungenen, gequälten Langsamkeit Platz gemacht hatte, hatten mich beinahe verrückt gemacht. Jetzt trennten mich nur ein paar Schritte von der Tür, hinter der ich von Herzen Paolo anzutreffen hoffte, und ich musste mich fast zwingen, sie zu gehen.
Herr, lass alles in Ordnung sein.
Aber ich ahnte, dass es das nicht sein würde.
Herr, lass Paolo bei Mojzesz und in Sicherheit sein.
Aber ich ahnte, dass … was?
Das Gebrüll vom Marktplatz tobte ungehindert weiter.
Hiiiihiiiiiih!
Daniel nahm mir das Barett aus der Hand und wandte es um. »Das ist aber eine große Größe«, sagte er und gab es mir zurück.
»Mhm«, machte ich.
Hiiiiiiiiiiih !
Dann öffnete sich Mojzesz Fiszels Haustür.
Einen Augenblick lang geschah gar nichts.
Daniel
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