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Der Sohn des Tuchhändlers

Der Sohn des Tuchhändlers

Titel: Der Sohn des Tuchhändlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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wäre nicht übertrieben zu sagen, dass dieser alle anderen in den Schatten stellte. Daniel und ich blieben unwillkürlich stehen und gafften, hin und her gestoßen von der Menge, die nun endgültig wie von Sinnen war. Wer aus dem Rathausturm herunterspähte, musste den Eindruck gewinnen, der Marktplatz wäre ein Wasserkessel und der Mob darin das brodelnde Wasser. Der Lärm der Menschen schlug eine Schlacht: Von dort, wo wir eingekeilt standen, brüllten die Leute, um näher heranzukommen, von dort, wo Avellino war, rollte ein Gekreisch heran, das einem die Haare zu Berge stehen ließ.
    Avellinos Leichnam war in ein Tuch gehüllt, das Dutzende von Händen und das Geschiebe und Gedrängel immer weiter herabzerrten. Was immer der Rat oder jemand anderer, der Avellino gehasst hatte, mit der Leiche hätten anstellen können, war nichts im Vergleich zu der Entwürdigung, die Avellinos Anhänger ihm in ihrem Bemühen, eine letzte Berührung ihres Idols zu erhaschen, zumuteten. Der Körper hatte die Leichenstarreüberwunden und taumelte schlaff über die Hände, die ihn in die Höhe hielten; der Kopf (sein dunkler Haarschopf hatte sich schon aus dem Tuch befreit) pendelte nach hinten, eine Hand war aus den Falten des Leichentuchs gerutscht; der Mob zerrte und zog und riss an ihr
    Avellino, segne mich !
    und versuchte, die Berührung länger sein zu lassen als nur Augenblicke. Es sah aus, als ob der Tote winke und als ob seine Hand – bereits zerschunden, das tote Fleisch war nicht mehr rot, aber man konnte sehen, wo es unter der zerfetzten Haut sichtbar wurde – von sich aus andere Hände ergriff und sie schüttelte oder sich auf Köpfe legte, um sie zu salben.
    Avellino, bitte für mich !
    Der Leichnam tanzte seinen unsäglichen Totentanz und bewegte sich über den Köpfen der Menge vorwärts. Wer ihn hielt, konnte ihn nur einen Moment lang halten, dann wurde er gestoßen und gedrängt, der Körper rutschte von den hocherhobenen Handflächen, aber da waren schon die ausgestreckten Hände des Nachbarn, der tote Avellino rollte herum und auf diese nächste Stütze … die sofort unter ihm herausgeschlagen wurde … weitere Hände griffen zu … zuckend und hüpfend tanzte der Tote einmal hier-, einmal dorthin. Eine Hand verkrallte sich in die lange Fahne des Leichentuchs und riss daran, Avellino geriet ins Schwanken, unwillkürlich dachte ich an seine erste Predigt im Frühling, als er auf seiner Staffelei ins Schwanken geraten war, doch jetzt wie damals bewahrte ihn etwas vorm Herabfallen. Das Leichentuch riss, ein Teil flatterte herab, wurde seinem Eroberer aus den Händen gezerrt und zerknäuelt und nochmals zerrissen und verschwand plötzlich unter den Menschen. Avellinos halber Oberkörper lag jetzt frei, ein magerer, im Tod gelblich-wächserner Brustkorb, von dunklen Quetschungen übersät, wo das Wasser ihn gegen den Brückenpfeiler gepresst hatte. Sein Gesicht und sein Hals waren weiterhin unter dem Tuch verborgen, seine Hand flatterte über die Meute hinweg; einer griff in sein Haarund riss daran beim Versuch, stattdessen das Leichentuch zu erwischen, und der Kopf des Toten ruckte zurück, und beinahe glitt er denen, die ihn jetzt trugen, aus den Händen, es schien, als bäume sich der Körper auf, um zu sehen, was auf dem Platz geschah, bevor er wieder zurücksank.
    Avellino, geh nicht von uns !
    Die Leute am Rand der Menge brüllten: »Avellino-Avellino- avellino !«; die im Zentrum schrien schrill das Lamento von Klageweibern hinaus – hiiiihiiiihiiiiih ! Alles drängte immer noch mehr zur Mitte hin, dorthin, wo der kostbare Leichnam immer mehr entblößt wurde. Wer jetzt ohnmächtig wurde oder stolperte, wurde zerquetscht. Daniel und ich wurden gerempelt, ich sah meinen Sohn, wie er herumfuhr und einen bulligen Kerl mit tränenüberströmtem Gesicht und Kratzern auf beiden Wangen am Kragen packte, um sich herumzerrte und in das Gebrodel vor uns stieß, ohne dass der Mann sich auch nur gewehrt hätte. Wir konnten uns am Rand der Menge halten, aber es war, als stünde man in einem tobenden Fluss.
    Die letzten Fetzen des Leichentuchs glitten herab und zerrissen in den gierig zugreifenden Händen. Avellino war jetzt nackt, sein Kopf rollte und flog herum wie bei einem im Veitstanz, sein Körper rollte von einer Seite zur anderen, die Arme schlenkerten, und selbst die Beine schienen zu treten.
    »Avellino!«
    Ich fragte mich, wann die Ersten den tiefen Schnitt in Avellinos Kehle sehen würden und das Gekreisch

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