Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sohn des Tuchhändlers

Der Sohn des Tuchhändlers

Titel: Der Sohn des Tuchhändlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
Vom Netzwerk:
dem Toben der Wut Platz machte.
    » Hiiiihiiiiiihiiiiiih !«
    Dann war der Tote weg.
    Von einem Augenblick zum anderen.
    » Hiiii … !«
    Das Zentrum der Menge drängte auseinander. Das Gekreisch hörte auf. Vom Rand schrien sie immer noch den Namen des Toten, dennoch schien sich plötzlich so etwas wie Stille aufden Platz zu senken. Wo wir standen, drängelten die Leute und sprangen ihren Vordermännern auf den Rücken, doch im Zentrum standen sie stocksteif. Avelllino …
    »Avellino …?«
    Der Fluss kam an ein Hindernis und staute sich auf.
    »Sie haben ihn fallen gelassen«, sagte Daniel.
    Als junger Mann habe ich einmal beobachtet, wie ein von einem unterirdischen Wasserstrom unterhöhltes Stück Boden plötzlich in sich zusammenbrach. An irgendeiner Stelle sackte der Grund weg, und das Wegsacken setzte sich blitzschnell in alle Richtungen fort, es gab ein merkwürdiges Geräusch, dann hatte sich eine neue Mulde gebildet, deren tiefster Punkt dort lag, wo der Boden zuerst nachgegeben hatte. Das Wasser brodelte Augenblicke später schmutzig schäumend durch die Spalten und Risse im Erdreich.
    Das Zentrum des Wegsackens lag heute an der Stelle, wo Avellinos Körper seinen Trägern endgültig entglitten war. Die Menschen rund um den Fleck stürzten nach vorn, stürzten auf die Knie, um den Leichnam hochzuheben, und diese Bewegung breitete sich ringförmig durch die Leiber aus, die sich darum herum drängelten, ein Hineinstürzen in das Zentrum des Falls, wie ich es damals beobachtet hatte; es war, als wäre Avellino leibhaftig zur Hölle gefahren und würde seine Anhänger jetzt mit sich nehmen. Wahrscheinlich hatten die Ersten, die auf die Knie gesunken waren, tatsächlich nichts anderes vorgehabt, als den Leichnam wieder hochzuheben. Die Nachdrängenden jedoch stürzten sich auf und über sie, und als das Kreischen von neuem begann
    Hiiiiiiiiiiiiiih !
    schwemmte es die mageren Reste von dem weg, was die Menschen auf dem Platz noch zu Individuen machte, und übrig blieb ein kochender, keilender, krankhaft stöhnender, ein reißender Mob, der das Stadium der letzten Berührung ihres Idols hinter sich ließ und jetzt einen Teil von ihm wollte.
    Niemandem würde jetzt noch der Schnitt in Avellinos Kehle auffallen. Ich war sicher, dass der Rat das nicht geplant hatte, aber zumindest waren sie nun die Sorge los, wie sie den Mord an dem Mönch hätten erklären sollen.
    Ich sah ganz vorn im Zentrum jemanden aufspringen und etwas in irrem Triumph in die Höhe halten, bevor er niedergerissen wurde. Irgendjemand stieß mich in den Rücken beim Versuch, an uns vorbei nach vorn zu gelangen, und ich fiel beinahe auf die Knie. Ich brauchte Daniel nichts zuzurufen; er wandte sich gleichzeitig mit mir um, keilte und schubste und stieß und kämpfte uns beide aus der Menge heraus, die sich zum Zentrum hin drängte. Vor den Häusern an der Nordwestflanke des Platzes hatte sich freier Raum gebildet, als die Gaffer dort ebenfalls nach vorn strömten oder entsetzt vom Wahnsinn flüchteten. Wir liefen daran entlang, parallel zu der Gasse, die eine Häuserzeile weiter vor unserem Haus vorüberführte, hinter dem Rathaus vorbei, dessen Anbau hier auf die Fassadenfront zusprang und eine Engstelle bildete, die im Augenblick frei von Menschen war. Wo die Schustergasse auf den Markplatz herausführte, ballten sich die Menschen zusammen, stauten sich vor der Nordostflanke des Rathauses, das sich ihnen als Hindernis auf dem Weg zu der Stelle zwischen dem Rathausturm und den Waagengebäuden entgegenstellte, an der Avellino in kleinen Stücken in die Hände seiner Anhänger überging; ich sah einen Freiraum und zerrte Daniel am Arm.
    »Rüber zum Pranger!«, schrie ich.
    Die Menschenmenge wurde hier weniger dicht und der Irrsinn weniger greifbar. Wer hier gewesen war, hatte nur bruchstückhaft mitbekommen, was vorn unterhalb des Rathausturms vor sich gegangen war; der Wahnsinn hatte nicht komplett auf ihn überspringen können. Wenn tatsächlich alle Krakauer den Kopf verloren hätten, wäre der Platz rund um die Tuchhallen herum überall schwarz vor Menschen gewesen; diejenigen, die sich dem Wahn ergeben hatten, reichten allerdings aus, um dieSüdwestseite des Marktplatzes in einen Hexenkessel zu verwandeln.
    »He, Mann, was ist da vorn eigentlich los?«, fragte jemand und machte Anstalten, mich am Arm zu packen. Ich riss mich so heftig los, dass er ins Taumeln geriet und hinter uns herschimpfte.
    Daniel machte Anstalten, zur Judengasse hin

Weitere Kostenlose Bücher